Kleine Zeitung Steiermark

Stornierte Gewissheit­en

Unser globalisie­rter Planet stößt in einer Ära von Multikrise­n an seine Grenzen. Wird neue Demut zum Gebot der Stunde und löst die Maßlosigke­it unserer bisherigen Ansprüche ab?

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Nun, zu Beginn der Hauptreise­saison, sickert es wohl endgültig in Bewusstsei­n und Gemüt: Von einem Sommer, „wie er früher einmal war“, kann keine Rede mehr sein. Das Credo der allzeitige­n, uns zu vermeintli­cher Selbstvers­tändlichke­it gewordenen Verfügbark­eit von allem wurde in den vergangene­n Wochen nicht zuletzt an den Flugsteige­n obsolet. Lange Gesichter vor Abflug-Monitoren in ganz Europa. Verspätung­en und Flugausfäl­le werden zwangsläuf­ig zum neuen „Normal“.

Eine mehrjährig­e Pandemie ließ auch die Flugbranch­e verwüstet zurück: Abgebautes Personal kam nicht wieder retour, und nun klemmt es in allen Bereichen. Man hebt als Passagier entweder gar nicht mehr ab oder strandet am Ende irgendwo. Die Zahlen sind historisch: Allein die LufthansaG­ruppe streicht im Juli und im August um die 3000 Flüge.

All das zeichnete sich in den vergangene­n zwei viruslasti­gen Jahren bereits ab: Buchen konnte man mit Zweckoptim­ismus und Kreditkart­e ja nach wie vor, doch die große Nachfrage Urlaubshun­griger bei gleichzeit­igen Personalen­gpässen führten die Flughäfen und Airlines zwangsläuf­ig an ihre Grenzen. Eine darbende Branche muss sich die Frage gefallen lassen, ob man den Kunden hier realistisc­he Angebote machte.

Das diesbezügl­iche, durchaus symptomati­sche Chaos, das in den nächsten Monaten nicht kleiner werden wird, ist das Eine. Das Andere ist das generelle Bewusstsei­n darüber, dass es vieles von dem, das Mensch in den letzten Jahrzehnte­n gewohnt war, so nicht mehr spielt: die Welt in Multikrise­n, nicht zuletzt seit Beginn des UkraineKri­egs, der seit 130 Tagen tobt.

Es sind grundlegen­de Fragen, denen Mensch sich stellen muss: Was und wie lässt sich planen, wenn offenbar nichts mehr planbar ist? Was wird erst im dritten und vierten Quartal des Jahres auf uns zukommen? Wie sieht es mit der Versorgung­ssicherhei­t aus? Wo gerät der Staat, dessen Spitze sich bei der Bewältigun­g von Krisen offenbar verschätze­n kann, an seine Grenzen? Wie (gut) lassen sich existenzie­lle Entscheidu­ngen in Echtzeit treffen?

Klar ist: Der globalisie­rte Planet hängt an einem gemeinsame­n, überlastet­en Nervensyst­em. Gnadenlose­r Wettbewerb kann nicht mehr über allem stehen. Den Blick dafür öffnen offenbar erst eine Pandemie, ein wie aus dem falschen Jahrhunder­t in das Jetzt gefallener Invasionsk­rieg und die längst durchschla­gende Klimakrise. emut könnte zum Gebot der Stunde werden und die Maßlosigke­it menschlich­er Ansprüche ablösen, denn letztlich wird es ohne „Downgradin­g“unserer über lange Zeit auf die Spitze getriebene­n Ansprüche nicht gehen. Es wird keine Rückkehr zu jener Normalität geben, die wie ein Kartenhaus zusammenge­fallen ist.

Das mag bitter schmecken. Es bietet aber die Chance, den Blick auf wirklich wichtige Faktoren im Leben zu legen und neues Miteinande­r zu suchen, ohne sich der Mutlosigke­it zu ergeben. Zumindest dafür sind stornierte Gewissheit­en gut.

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