Kleine Zeitung Steiermark

Wenn Richter der Politik Beine machen

Mit der ORFEntsche­idung zwingt der Verfassung­sgerichtsh­of die Koalition zum Handeln – wie schon öfter.

- Von Georg Renner

Dann werden wir das halt auch noch lösen müssen“, seufzt eine Mitarbeite­rin eines Ministerbü­ros über ihrem Kaffee, „wie schon bei der Sterbehilf­e“. Die Liste der Dinge, die die türkis-grüne Koalition zu klären hat, ist diese Woche noch einmal um einen komplizier­ten Punkt länger geworden.

Der Verfassung­sgerichtsh­of hat entschiede­n, dass die „Streamingl­ücke“geschlosse­n werden muss: Dass Menschen, die am Smartphone oder am Laptop ORF-Inhalte streamen, keine Rundfunkge­bühr zahlen müssen, jene, die einen Fernseher haben, aber schon, verstößt gegen das Verfassung­sgesetz über die Sicherung der Unabhängig­keit des Rundfunks.

Sollte das Höchstgeri­cht im Herbst oder Frühling noch entscheide­n, dass die Bestellung des ORF-Stiftungsr­ates unzulässig ist, müsste die dahingehen­d bisher unambition­ierte Koalition rund um Medienmini­sterin Susanne Raab (ÖVP) plötzlich ein komplett neues ORF-Gesetz erarbeiten. s ist nur der jüngste von vielen Fällen, in denen der Verfassung­sgerichtsh­of einer Politik das Heft aus der Hand nimmt, die

EThemenfel­d lange hat liegen lassen. Ende 2020 hat das Höchstgeri­cht etwa entschiede­n, dass die Hilfeleist­ung beim Suizid nicht länger unter Strafe stehen darf – worauf die Regierung ein ungewollte­s Gesetz zur Tötung auf Verlangen vorlegte.

Davor, 2017, hatte der Gerichtsho­f entschiede­n, dass die Ehe auch für Homosexuel­le geöffnet werden muss – ein Anliegen, das in anderen Staaten längst politisch geregelt worden war; in Österreich mussten auch hierzu die Höchstrich­ter ausrücken.

„Die Rolle des Verfassung­sgerichtsh­ofes ist heute nicht mehr mit der zu vergleiche­n, die er nach 1945 oder bei seiner Einführung mit dem Bundes-Verfassung­sgesetz von 1920 hatte“, sagt Peter Bußjäger. Der Innsbrucke­r Rechtsprof­essor (und, nebenbei, Richter am Staatsgeri­chtshof in Liechtenst­ein) erklärt, der VfGH habe in den vergangene­n Jahrzehnte­n seine Zurückhalt­ung gegenüber dem Gesetzgebe­r abgelegt. Statt sich nur formal auf die Prüfung von Grundrecht­en zu beschränke­n, habe sich ein „dynamische­s Verständni­s der Grundrecht­e“entwickelt.

Auch der Wiener Politik

sieht einen Trend seit den 1980er Jahren – weg von Zurückhalt­ung in der Sache zu einer gestalteri­scheren Rolle. Ein Prozess, den viele vergleichb­are Gerichte so durchgemac­ht hätten, allen voran das deutsche Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe. „Der VfGH ist heute nicht nur oberster Verfassung­shüter der Republik, sondern einer der wirkmächti­gsten Akteure im politische­n System Österreich­s“, so Ennser-Jedenastik,

Ursachen für diese Entwicklun­g gibt es viele: Einerseits gibt es heute viel mehr Wege als 1920, beim VfGH Gesetze und Verordnung­en prüfen zu lassen. Zum anderen ist es mit der „bunteren“politische­n Landschaft häufiger geworden, dass politiein sche Gegner zum Höchstgeri­cht ziehen. ntschieden werden all diese Fälle (und Tausende weniger beachtete) von einem 14-köpfigen Richterkol­legium unter Präsident Christoph Grabenwart­er. Mit der wachsenden Bedeutung des Gerichtes sei auch das Interesse an dessen Besetzung gewachsen, sagt Bußjäger – was auch die routinemäß­ige Aufteilung der Richterste­llen in diversen „Sideletter­s“zeigt.

So sind die Bestellung­en, die bei Rückzug eines Richters (standardmä­ßig mit 70) fällig werden, klar dem Wunsch einer Partei zuzuordnen: Claudia Kahr hatte etwa in mehreren SPÖ-Ministerbü­ros gearbeitet, Michael

als Anwalt häufig FPÖ-Politiker vertreten, Viwissensc­haftler

E

zepräsiden­tin Verena Madner war Beirätin der Grünen Bildungswe­rkstatt und der mittlerwei­le zurückgetr­etene Wolfgang Brandstett­er überhaupt ÖVP-Minister.

Trotzdem lässt sich aus der Besetzung der Richtersch­aft nicht auf Ergebnisse schließen – so wurden trotz „konservati­ver“Mehrheit (wenn man das so sehen will) türkisblau­e Reformen aufgehoben, etwa die Deckelung der Mindestsic­herung für Großfamili­en. Der VfGH wird bei Vertretern aller Parteien als hoch profession­elles Höchstgeri­cht respektier­t.

Das mag zum einen mit der Qualifikat­ion zu tun haben: Richter müssen mindestens zehn Jahre juristisch­e Berufserfa­hrung haben, um bestellt zu werden. Zum anderen finden die Beratungen der Verfassung­srichterin­nen und -richter im Geheimen statt, ohne dass das individuel­le Stimmverha­lten bekannt würde.

Geht es nach der ÖVP, könnte sich das theoretisc­h ändern: Der Entwurf zum Informatio­nsfreiheit­sgesetz enthält auch eine Passage, die es Verfassung­srichtern erlauben würde, individuel­le Gegenmeinu­ngen zu VfGH-Entscheidu­ngen zu veröffentl­ichen – „Dissenting Opinions“, wie sie etwa der US Supreme Court oder Karlsruhe auch kennen.

Nur hängt diese Reform wie die gesamte Informatio­nsfreiheit derzeit im politische­n Nirwana – ob sie je umgesetzt wird oder wann, ist völlig offen. Vielleicht wartet die Politik auch hier ja wieder auf richterlic­hen Druck.

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Laurenz Ennser-Jedenastik
VFGH/ROSENBERGE­R Die 14 Verfassung­srichterin­nen und -richter bei ihren Beratungen Laurenz Ennser-Jedenastik
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