Wenn Richter der Politik Beine machen
Mit der ORFEntscheidung zwingt der Verfassungsgerichtshof die Koalition zum Handeln – wie schon öfter.
Dann werden wir das halt auch noch lösen müssen“, seufzt eine Mitarbeiterin eines Ministerbüros über ihrem Kaffee, „wie schon bei der Sterbehilfe“. Die Liste der Dinge, die die türkis-grüne Koalition zu klären hat, ist diese Woche noch einmal um einen komplizierten Punkt länger geworden.
Der Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass die „Streaminglücke“geschlossen werden muss: Dass Menschen, die am Smartphone oder am Laptop ORF-Inhalte streamen, keine Rundfunkgebühr zahlen müssen, jene, die einen Fernseher haben, aber schon, verstößt gegen das Verfassungsgesetz über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks.
Sollte das Höchstgericht im Herbst oder Frühling noch entscheiden, dass die Bestellung des ORF-Stiftungsrates unzulässig ist, müsste die dahingehend bisher unambitionierte Koalition rund um Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) plötzlich ein komplett neues ORF-Gesetz erarbeiten. s ist nur der jüngste von vielen Fällen, in denen der Verfassungsgerichtshof einer Politik das Heft aus der Hand nimmt, die
EThemenfeld lange hat liegen lassen. Ende 2020 hat das Höchstgericht etwa entschieden, dass die Hilfeleistung beim Suizid nicht länger unter Strafe stehen darf – worauf die Regierung ein ungewolltes Gesetz zur Tötung auf Verlangen vorlegte.
Davor, 2017, hatte der Gerichtshof entschieden, dass die Ehe auch für Homosexuelle geöffnet werden muss – ein Anliegen, das in anderen Staaten längst politisch geregelt worden war; in Österreich mussten auch hierzu die Höchstrichter ausrücken.
„Die Rolle des Verfassungsgerichtshofes ist heute nicht mehr mit der zu vergleichen, die er nach 1945 oder bei seiner Einführung mit dem Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 hatte“, sagt Peter Bußjäger. Der Innsbrucker Rechtsprofessor (und, nebenbei, Richter am Staatsgerichtshof in Liechtenstein) erklärt, der VfGH habe in den vergangenen Jahrzehnten seine Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber abgelegt. Statt sich nur formal auf die Prüfung von Grundrechten zu beschränken, habe sich ein „dynamisches Verständnis der Grundrechte“entwickelt.
Auch der Wiener Politik
sieht einen Trend seit den 1980er Jahren – weg von Zurückhaltung in der Sache zu einer gestalterischeren Rolle. Ein Prozess, den viele vergleichbare Gerichte so durchgemacht hätten, allen voran das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. „Der VfGH ist heute nicht nur oberster Verfassungshüter der Republik, sondern einer der wirkmächtigsten Akteure im politischen System Österreichs“, so Ennser-Jedenastik,
Ursachen für diese Entwicklung gibt es viele: Einerseits gibt es heute viel mehr Wege als 1920, beim VfGH Gesetze und Verordnungen prüfen zu lassen. Zum anderen ist es mit der „bunteren“politischen Landschaft häufiger geworden, dass politiein sche Gegner zum Höchstgericht ziehen. ntschieden werden all diese Fälle (und Tausende weniger beachtete) von einem 14-köpfigen Richterkollegium unter Präsident Christoph Grabenwarter. Mit der wachsenden Bedeutung des Gerichtes sei auch das Interesse an dessen Besetzung gewachsen, sagt Bußjäger – was auch die routinemäßige Aufteilung der Richterstellen in diversen „Sideletters“zeigt.
So sind die Bestellungen, die bei Rückzug eines Richters (standardmäßig mit 70) fällig werden, klar dem Wunsch einer Partei zuzuordnen: Claudia Kahr hatte etwa in mehreren SPÖ-Ministerbüros gearbeitet, Michael
als Anwalt häufig FPÖ-Politiker vertreten, Viwissenschaftler
E
zepräsidentin Verena Madner war Beirätin der Grünen Bildungswerkstatt und der mittlerweile zurückgetretene Wolfgang Brandstetter überhaupt ÖVP-Minister.
Trotzdem lässt sich aus der Besetzung der Richterschaft nicht auf Ergebnisse schließen – so wurden trotz „konservativer“Mehrheit (wenn man das so sehen will) türkisblaue Reformen aufgehoben, etwa die Deckelung der Mindestsicherung für Großfamilien. Der VfGH wird bei Vertretern aller Parteien als hoch professionelles Höchstgericht respektiert.
Das mag zum einen mit der Qualifikation zu tun haben: Richter müssen mindestens zehn Jahre juristische Berufserfahrung haben, um bestellt zu werden. Zum anderen finden die Beratungen der Verfassungsrichterinnen und -richter im Geheimen statt, ohne dass das individuelle Stimmverhalten bekannt würde.
Geht es nach der ÖVP, könnte sich das theoretisch ändern: Der Entwurf zum Informationsfreiheitsgesetz enthält auch eine Passage, die es Verfassungsrichtern erlauben würde, individuelle Gegenmeinungen zu VfGH-Entscheidungen zu veröffentlichen – „Dissenting Opinions“, wie sie etwa der US Supreme Court oder Karlsruhe auch kennen.
Nur hängt diese Reform wie die gesamte Informationsfreiheit derzeit im politischen Nirwana – ob sie je umgesetzt wird oder wann, ist völlig offen. Vielleicht wartet die Politik auch hier ja wieder auf richterlichen Druck.