Tolstoi im Gepäck
Endlich in den Süden, endlich Sonne, Meer und vor allem: endlich abschalten. Seit Jahren bemühe ich mich darum, aber auf Schritt und Tritt folgt mir jemand, der dagegen queruliert.
Urlaub machen bereitet mir massive Probleme. Zwar bin ich in der Lage, einen Zielort herauszusuchen, eine Unterkunft zu buchen und loszufahren, aber Urlaub im Sinne von Abschalten und Seele baumeln lassen, das ist mir nicht möglich: Ich kann die Schriftstellerin in mir nicht zum Nichtstun verdammen. Sie hört einfach nicht auf mich. Ich kann sie aber auch nicht allein zu Hause lassen, wer weiß, was sie dort anstellt, tagelang unbeaufsichtigt.
Also schleppe ich sie mit, Jahr für Jahr, Sommer für Sommer, und verzweifle stets aufs Neue. Sie lässt mich keine Sekunde in Ruhe, folgt mir wie mein Schatten, sie ist mein Schatten. Weil sie das Konzept Urlaub absurd findet, queruliert sie die ganze Zeit. Sie lässt mich Dinge tun, die mir unangenehm sind, leider meist erst rückblickend. Zum Beispiel bringt sie mich dazu, permanent andere Menschen zu beobachten. Oft gerate ich dabei in eine dermaßen selbstvergessene Beobachterposition, dass es jedem, inklusive den Beobachteten, auffällt. Während ich mich dann vor ihnen geniere, kann ich die Schriftstellerin gerade noch davor zurückhalten, ihnen frech entgegenzuschleudern: „Okay, ich habe euch belauscht, aber noch seltsamer als das finde ich, wie wenig ihr euch für andere Menschen interessiert!“
Das wäre noch irgendwie zu bewältigen, aber leider bleibt es nie beim Beobachten. Schon währenddessen quält mich die Schriftstellerin mit unzähligen Fragen. „Die Familie“, haut sie mich zum Beispiel morgens beim Frühstück an, „die mit den zwei präpubertären Kindern am Nachbartisch rechts, schau hin, nun schau doch hin! Die, die sich konsequent anschweigen, meinst du, das sind wortkarge Skandinavier oder haben sie einander jetzt schon nichts mehr zu sagen? as wird der Sohn, wenn er erwachsen ist und beim Psychoanalytiker auf der Couch sitzt, über den skeptischen Seitenblick des Vaters sagen? Wird sich die Tochter jemals von der Mutter emanzipieren und sich die strengen, nicht mehr altersgemäßen Zöpfe abschneiden? Moment mal, wer sagt, dass die Frau die Mutter der Kinder ist?“Familien, muss ich dazusagen, sind ihr liebster Untersuchungsgegenstand.
WNach wenigen Tagen hat die Schriftstellerin in mir alle Familien im Hotel studiert und mit haltlosen Hypothesen über die Beziehungen untereinander versehen. Hypothesen nenne ich es, sie spricht dann bereits von Theorien. Aber sie ist so überzeugend, dass ich mich manchmal dabei erwische, das alles für wahr zu halten.
„Stopp“, sage ich, „das ist dreist und anmaßend. Diese ganzen Geheimnisse, unbefriedigten Bedürfnisse und sogar Abgründe, die du den Familien andichtest – du gehst zu weit!“Sie kontert dann mit dem AnnaKarenina-Prinzip, benannt nach dem berühmten ersten Satz aus Leo Tolstois gleichnamigem Roman: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“Demnach muss für eine glückliche Familie alles stimmen, für eine unglückliche hingegen muss nur ein Faktor in Schieflage geraten. ie Schriftstellerin rechtfertigt sich damit, die Schieflagen erkennen zu wollen, nein, zu müssen, das sei eben eine Berufskrankheit, quasi Trockenübungen für die Zeit, wenn es wieder an den Schreibtisch geht.
Okay, denke ich, und zähle die Tage an den Fingern ab; das ist bald. Also tief durchatmen, wir haben ihn fast geschafft, den Urlaub.
D