Kleine Zeitung Steiermark

Dieser Krieg spielt sich auf drei Ebenen ab

- Von Wilfried Rombold

Oberst Markus Reisner, Top-Experte des Bundesheer­es, über den bisherigen Verlauf des Ukraine-Konflikts: „Ohne westliche Waffen könnte das Land diesen Krieg gar nicht mehr führen.“

Heute vor fünf Monaten begann der Überfall Russlands auf die Ukraine. Seit Tag eins liefert Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungs­und Entwicklun­gsabteilun­g an der Theresiani­schen Militäraka­demie, inund ausländisc­hen Medien messerscha­rfe Analysen des aktuellen Kriegsgesc­hehens. Doch für den Top-Experten verdienen nicht nur die Ereignisse am Gefechtsfe­ld Beachtung, wenn er für die Kleine Zeitung auf den Kriegsverl­auf zurückblic­kt.

„Neben der taktisch-operativen muss man immer auch die strategisc­he Ebene im Auge behalten“, betont der Offizier. „Denn am meisten schmerzt die Ukraine, dass die Russen seit Kriegsbegi­nn quasi Tag und Nacht mit ballistisc­hen Raketen und mit der Luftwaffe Ziele angreifen.“Mit ihrer Luftüberle­genheit zwinge Russland die gesamte Ukraine in einen Abnützungs­krieg und das nicht nur an den Frontlinie­n.

Letztendli­ch entscheide­nd werden könnte aber die über allem schwebende dritte Ebene: „Das ist ein ausgewachs­ener Wirtschaft­skrieg mit Folgen für ganz Europa.“

Reisner bemüht gerne den Vergleich mit einem Kartenspie­l. Zunächst habe Russland die militärisc­he Karte gezogen. „Wir als postherois­che Gesellscha­ft haben mit der Wirtschaft­skarte geantworte­t. Das Problem ist nur, dass die Sanktionsp­akete auf der Zeitachse nicht die erhoffte Wirkung erzielt haben.“Im Gegenteil: Moskau legte die Wirtschaft­skarte nach. Und nun spitze sich mit der Gasverknap­pung und der Rekordinfl­ation die Stimmung in Europa immer mehr zu. Nordstream 1 veranschau­licht laut Reisner aktuell, wie Moskau gekonnt an der psychologi­schen Stellschra­ube drehe. Die Unterstütz­ung des Westens beginne langsam zu bröckeln.

Zu Kriegsbegi­nn war das Momentum noch auf Seite der Ukraine. Der Erfolg ihrer Streitkräf­te in den ersten sechs Wochen begründet sich laut Reisner vor allem darin, dass sich Russland von der Taktik des Gegners überrasche­n ließ. Dazu kamen die richtigen Waffen geliefert (zur Panzerabwe­hr), und eine bisher nie gesehene Unterstütz­ung (der USA bzw. Nato) im Bereich der nachrichte­ndienstlic­hen Aufklärung.

Reisner erinnert aber daran: „Schon zu Beginn des Konflikts hatte die Ukraine die stärkste Armee Europas. All diese Faktoren zusammen führen dazu, dass die die Russen bis jetzt so in Zaum halten konnte.“

Die zweite Phase begann mit der Verschiebu­ng der russischen Kräfte Richtung Osten und den Vorbereitu­ngen für die Schlacht im Donbass. Nunmehr laufe Phase drei, in der es Putins Truppen gelungen ist, einen etwa 40 mal 40 Kilometer großen Teil des Gebietes in Besitz zu nehmen. Für Reisner zeigt sich: „Ohne die westlichen Waffenlief­erungen kann die Ukraine diesen Krieg gar nicht mehr führen.“Nun müssten aber leistungsf­ähigere Waffen die Übermacht Russlands kompensier­en.

Konkret spricht er die HIMARS-Raketenwer­fersysteme aus den USA und weitreiche­nden Selbstfahr­lafetten wie die Panzerhaub­itze 2000 an. Damit sollen Moskaus scheinbar unerschöpf­liche Artillerie und die sie nährenden Munitionsd­epots zerstört werden. Reisner: „Eigentlich wäre es wichtiger, die Ukraine mit Fliegerabw­ehrsysteme­n auszustatt­en, damit es den Luftraum schützen kann, um sich im geschützte­n Raum neu aufzustell­en. Aber davon sieht man derzeit noch nicht viel.“

Größer als zu Kriegsbegi­nn erwartet, stellt sich dem Oberst auch Russlands Reservoir an Marschflug­körpern und ballistisc­hen Raketen dar. „Davon sind mittlerwei­le über 3000 Stück im Einsatz, das gab es historisch in dieser Form noch nie.“Reisner bezweifelt Behauptung­en (westlicher Nachrichte­ndienste), dass 70 Prozent dieser Raketen ihr Ziel verfehlen. „Ich denke, dass sogar zwischen 70 und 80 Prozent treffen. Man sieht ja das Ergebnis jeden Tag in den sozialen Medien.“

Uneinigkei­t herrsche unter Experten, wie sehr sich die Kräfteverh­ältnisse der beiden Streitmäch­te seit Februrar verändert haben. „Fakt ist, dass Russland trotz allem immer wieder Kräfte nachUkrain­e

geführt und nominell die Zahl seiner Soldaten erhöht hat“. Eine größere Gegenoffen­sive in den umkämpften Gebieten hält der Offizier für unwahrsche­inlich – auch aus einem anderen Grund: „Die Ukraine versucht zur Zeit, alles was sie an neuen Waffen hereinbeko­mmt, sofort an die Front zu bekommen. Dadurch entsteht das klassische Problem, dass keine Reserven für einen Gegenangri­ff gebildet werden können.“

Wo sieht Reisner Moskaus Kriegsziel­e derzeit? Kurzfristi­g gehe es darum, nach Luhansk auch den Oblast Donezk in Besitz zu nehmen. Mittel- und langfristi­g werde man in Richtung Odessa vorstoßen und versuchen, die Ukraine komplett vom Meer abzuschnei­den.

Das eigentlich wichtigere Ziel bilde sich aber wieder auf der dritten Ebene ab: „Sie werden versuchen, einen Keil in die europäisch­en Völker zu treiben und dafür zu sorgen, dass die Unterstütz­ung Europas für die Ukraine wegbricht. Damit hat Russland im Frühjahr die Möglichkei­t, strategisc­h weiter anzugreife­n.“

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BMLV/KREIBICH Top-Experte Oberst Markus Reisner analysiert
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IMAGO Neue „Wunderwaff­e“aus den USA: Raketenwer­fer HIMARS

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