Tausend Abschiede, und ein letzter
Die Diagnose ALS hebt das Leben aus den Fugen. Die Medizin ist machtlos, der Forschung fehlen Mittel. Ein Bericht aus Sicht einer Tochter.
Eine Ahnung hatten wir ja schon länger: Irgendetwas stimmt nicht. Da waren diese Sprechstörungen, die meine Mutter oft abends bekam. Wir scherzten noch mit ihr: Du klingst, als hättest du einen Schwips – schließlich trank sie so gut wie nie Alkohol. Oder diese scheinbar grundlose Erschöpfung. Nächtliche Krämpfe. Muskelschwäche im Bein. Aber was soll schon sein. Wahrscheinlich Nebenwirkungen von Medikamenten. Die Hitze des Sommers. Erste Anzeichen des Älterwerdens, kurz nach der Pensionierung. Kleine Wehwehchen.
Doch niemand hatte mit dem gerechnet, was der Arzt meiner Mutter an einem Tag im November 2019 erklärte: „Sie haben ALS. Wir können aus medizinischer Sicht nichts tun. Lesen Sie nicht im Internet darüber. Für die Symptome gibt es Abhilfe. Kommen Sie alle zwei Monate zur Kontrolle her. Fahren Sie auf Urlaub, genießen Sie, solange es halbwegs geht.“
ALS? Ich wusste sofort, was diese sonderbare Bezeichnung bedeutete. Denn schon, als ich ihre Symptome gegoogelt hatte – da war meine Mutter gerade zur Abklärung im Krankenhaus –, tauchte auf einer medizinischen Seite in einer Reihe mit anderen Diagnosen das Wort ALS auf. Ich hatte es kurz nachgelesen und schnell weitergeklickt: Das ist so selten und so schlimm, das ist es nicht.
Das war es doch. Was folgte, war ein stetiger Weg bergab: Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine gnadenlose Krankheit. Sie lässt jene
im Gehirn und Rückenmark absterben, die dafür sorgen, dass sich die Muskeln bewegen. Und so wird der Körper nach und nach gelähmt. Am Schluss verkümmert meist die Atemmuskulatur, und ohne Atem stirbt der Mensch. Dieser kann nur hilflos zusehen; das Gehirn arbeitet in den meisten Fällen normal weiter, man kriegt alles mit. Aufzuhalten ist der Verfall nicht.
Als die Symptome voranschritten, es war mittlerweile Frühling 2020, sprach die ganze Welt nur noch über eine Krankheit: Covid-19. Dabei brach gerade unsere eigene kleine Welt zusammen. Man sollte sich nicht zu Ostern treffen – sollten wir es trotzdem wagen? Ein weiteres gemeinsames Ostern könnte uns verwehrt bleiben.
Immer dabei: die Sorge, die Mutter auch noch unbemerkt mit Corona anzustecken. Einmal, im ersten Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen, fuhr ich zu ihr, und im Auto überlegte ich, was ich der Polizei sagen sollte, wenn sie mich aufhält: Die todkranke Mama besuchen, würde das gelten?
Als sie, schon beim Atmen geschwächt, einen furchtbaren Husten hatte, fuhr ich mit ihr abends in ein Krankenhaus – das aufgrund der Belastungen der Pandemie gestresste Personal auf der Ambulanz hatte nur einen Rat: „Nehmen sie Hustensaft.“Mit ALS kannte man sich nicht wirklich aus. Wir haben gelernt: Mit ALS kennen sich viele nicht aus.
Obwohl meine Mutter grundsätzlich in guter ärztlicher Versorgung war, PhyNervenzellen
siotherapie, Logopädie und Schmerzmedikation bekam: Man hetzt immer den sich steigernden Leiden hinterher. Es geht nicht mehr um Besserung, maximal um Erhalt der Funktionen. Doch: Wenn man gerade einen Weg gefunden hat, mit dem Status quo umzugehen, geht wieder eine Fähigkeit verloren.
Irgendwo im Internet steht: ALS ist die Krankheit der tausend Abschiede. Das trifft es gut: Abschied vom Gehen, vom Sprechen, der Möglichkeit, zu essen, ohne sich zu verschlucken. Die psychische Belastung aller Beteiligten – allen voran der Erkrankten – ist enorm. Einmal saßen wir bei der Notarin, da konnte meine Mutter noch mit am Tisch sitzen, und unterzeichneten ihren Wunsch, später nicht künstlich am Leben erhalten zu werden. Keine invasive Beatmung, keine Sondenernährung. Man sitzt im falschen Film, nur dass man den Kinosaal nicht verlassen kann.
Elf Monate nach der Diagnose ALS starb sie, warm umsorgt auf einer Palliativstation. Zumindest die letzten Stunden verliefen, wie sie es wollte: ohne Qualen, im Kreis der Lieben.
Für künftige Betroffene wünsche ich mir, dass ein Mittel gefunden wird, diese seit mehr als 150 Jahren bekannte Krankheit zu lindern, bestenfalls zu heilen. Deshalb habe ich den Podcast „Eis drauf – Leben! mit ALS“produziert (siehe Infobox). Denn die unterfinanzierte ALS-Forschung ist – auch Jahre nach der Ice-BucketChallenge – weiterhin stark auf Spenden angewiesen.