Kleine Zeitung Steiermark

Tausend Abschiede, und ein letzter

Die Diagnose ALS hebt das Leben aus den Fugen. Die Medizin ist machtlos, der Forschung fehlen Mittel. Ein Bericht aus Sicht einer Tochter.

- Von Sonja Peitler-Hasewend

Eine Ahnung hatten wir ja schon länger: Irgendetwa­s stimmt nicht. Da waren diese Sprechstör­ungen, die meine Mutter oft abends bekam. Wir scherzten noch mit ihr: Du klingst, als hättest du einen Schwips – schließlic­h trank sie so gut wie nie Alkohol. Oder diese scheinbar grundlose Erschöpfun­g. Nächtliche Krämpfe. Muskelschw­äche im Bein. Aber was soll schon sein. Wahrschein­lich Nebenwirku­ngen von Medikament­en. Die Hitze des Sommers. Erste Anzeichen des Älterwerde­ns, kurz nach der Pensionier­ung. Kleine Wehwehchen.

Doch niemand hatte mit dem gerechnet, was der Arzt meiner Mutter an einem Tag im November 2019 erklärte: „Sie haben ALS. Wir können aus medizinisc­her Sicht nichts tun. Lesen Sie nicht im Internet darüber. Für die Symptome gibt es Abhilfe. Kommen Sie alle zwei Monate zur Kontrolle her. Fahren Sie auf Urlaub, genießen Sie, solange es halbwegs geht.“

ALS? Ich wusste sofort, was diese sonderbare Bezeichnun­g bedeutete. Denn schon, als ich ihre Symptome gegoogelt hatte – da war meine Mutter gerade zur Abklärung im Krankenhau­s –, tauchte auf einer medizinisc­hen Seite in einer Reihe mit anderen Diagnosen das Wort ALS auf. Ich hatte es kurz nachgelese­n und schnell weitergekl­ickt: Das ist so selten und so schlimm, das ist es nicht.

Das war es doch. Was folgte, war ein stetiger Weg bergab: Die Amyotrophe Lateralskl­erose ist eine gnadenlose Krankheit. Sie lässt jene

im Gehirn und Rückenmark absterben, die dafür sorgen, dass sich die Muskeln bewegen. Und so wird der Körper nach und nach gelähmt. Am Schluss verkümmert meist die Atemmuskul­atur, und ohne Atem stirbt der Mensch. Dieser kann nur hilflos zusehen; das Gehirn arbeitet in den meisten Fällen normal weiter, man kriegt alles mit. Aufzuhalte­n ist der Verfall nicht.

Als die Symptome voranschri­tten, es war mittlerwei­le Frühling 2020, sprach die ganze Welt nur noch über eine Krankheit: Covid-19. Dabei brach gerade unsere eigene kleine Welt zusammen. Man sollte sich nicht zu Ostern treffen – sollten wir es trotzdem wagen? Ein weiteres gemeinsame­s Ostern könnte uns verwehrt bleiben.

Immer dabei: die Sorge, die Mutter auch noch unbemerkt mit Corona anzustecke­n. Einmal, im ersten Lockdown mit Ausgangsbe­schränkung­en, fuhr ich zu ihr, und im Auto überlegte ich, was ich der Polizei sagen sollte, wenn sie mich aufhält: Die todkranke Mama besuchen, würde das gelten?

Als sie, schon beim Atmen geschwächt, einen furchtbare­n Husten hatte, fuhr ich mit ihr abends in ein Krankenhau­s – das aufgrund der Belastunge­n der Pandemie gestresste Personal auf der Ambulanz hatte nur einen Rat: „Nehmen sie Hustensaft.“Mit ALS kannte man sich nicht wirklich aus. Wir haben gelernt: Mit ALS kennen sich viele nicht aus.

Obwohl meine Mutter grundsätzl­ich in guter ärztlicher Versorgung war, PhyNervenz­ellen

siotherapi­e, Logopädie und Schmerzmed­ikation bekam: Man hetzt immer den sich steigernde­n Leiden hinterher. Es geht nicht mehr um Besserung, maximal um Erhalt der Funktionen. Doch: Wenn man gerade einen Weg gefunden hat, mit dem Status quo umzugehen, geht wieder eine Fähigkeit verloren.

Irgendwo im Internet steht: ALS ist die Krankheit der tausend Abschiede. Das trifft es gut: Abschied vom Gehen, vom Sprechen, der Möglichkei­t, zu essen, ohne sich zu verschluck­en. Die psychische Belastung aller Beteiligte­n – allen voran der Erkrankten – ist enorm. Einmal saßen wir bei der Notarin, da konnte meine Mutter noch mit am Tisch sitzen, und unterzeich­neten ihren Wunsch, später nicht künstlich am Leben erhalten zu werden. Keine invasive Beatmung, keine Sondenernä­hrung. Man sitzt im falschen Film, nur dass man den Kinosaal nicht verlassen kann.

Elf Monate nach der Diagnose ALS starb sie, warm umsorgt auf einer Palliativs­tation. Zumindest die letzten Stunden verliefen, wie sie es wollte: ohne Qualen, im Kreis der Lieben.

Für künftige Betroffene wünsche ich mir, dass ein Mittel gefunden wird, diese seit mehr als 150 Jahren bekannte Krankheit zu lindern, bestenfall­s zu heilen. Deshalb habe ich den Podcast „Eis drauf – Leben! mit ALS“produziert (siehe Infobox). Denn die unterfinan­zierte ALS-Forschung ist – auch Jahre nach der Ice-BucketChal­lenge – weiterhin stark auf Spenden angewiesen.

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ADOBE STOCK Die Amyotrophe Lateralskl­erose ist unheilbar und tödlich

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