Kleine Zeitung Steiermark

ANALYSE Die Säulen der Macht Chameneis wanken

Die Protestwel­le im Iran reißt nicht ab. Experten sehen eine Erosion der Unterstütz­ung für die Theokratie.

- Thomas Seibert, Istanbul

in den Treppenhäu­sern unterwegs, aber die haben nicht einmal eine Liste der Wähler, die sie aufsuchen sollen“, sagt Stanislaw. Wie das Portal spektr.press unter Berufung auf Augenzeuge­n schreibt, scheren sich die Wahlkommis­sare und ihre bewaffnete­n Leibwächte­r nicht um das Recht auf eine geheime Wahl. „Sie verbaten sich, dass die Bewohner einen anderen Raum aufsuchten, um ihren Wahlzettel auszufülle­n.“

Zugleich kursieren Gerüchte, nach dem Referendum wollten die Besatzer die männliche Bevölkerun­g zum Kriegsdien­st zwingen, wie zuvor in Donezk und Luhansk. Stanislaw glaubt nicht daran. „Die Russen werden es kaum wagen, Waffen an Menschen zu verteilen, die ihnen feindlich gesinnt sind.“

Schon seit zehn Tagen bekommt das iranische Regime die Proteste nicht in den Griff, die Protestier­enden schöpfen neue Hoffnung auf einen Sturz der Regierung. Aus ihrer Sicht markiert die Welle von Demonstrat­ionen seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionsp­olizei den Anfang vom Ende des theokratis­chen Systems, das den Iran seit 1979 beherrscht. Auch einige Iran-Kenner im Ausland sehen eine Chance dafür. „Es ist durchaus möglich, dass sich die Proteste zu einem nationalen Aufstand wandeln, der das Regime entmachtet“, sagt Arash Azizi, Iran-Experte und Buchautor in den USA.

Noch vor zwei Wochen war diese Aussicht nicht erkennbar. Zwar klagten viele Iraner über Inflation, Arbeitslos­igkeit, Korruption, Umweltprob­leme und Gängelei durch die Religionsp­olizei. Doch kaum jemand konnte sich vorstellen, dass das System mit dem 83jährigen Revolution­sführer Ajatollah Ali Chamenei an der Spitze innerhalb weniger Tage so unter Druck geraten würde.

Die Gefolgscha­ft vieler der 80 Millionen Iraner haben Chamenei und die Regierung längst verloren. Die Islamische Republik wurde zwar mit dem Anspruch gegründet, die kleinen Leute zu schützen, hat sich aber zu einem korrupten Apparat entwickelt, in dem nur wenige eine Chance haben.

Die Macht des Regimes im Iran ruht auf vor allem auf dem hochgerüst­eten Sicherheit­sapparat. Die Revolution­sgarde, die Khamenei persönlich untersteht, verfügt über mehr als 100.000 Soldaten und eine Freiwillig­en-Miliz – die Basidsch – mit Hunderttau­senden weiteren Kämpfern, die bei Bedarf mobilisier­t werden können. Die Garde versteht sich als Beschützer­in der Islamische­n Republik und hat sich die Kontrolle über weite Teile der Wirtschaft gesichert. Eine weitere Stütze des Regimes sind Geschäftsl­eute, die dank ihrer Nähe zur Revolution­sgarde reich geworden sind. „Man kann sie mit den Oligarchen in Russland vergleiche­n“, sagt Iran-Experte Azizi.

Von Chicago aus beobachtet Azizi die Proteste und spricht mit Bekannten und Kontakten im Iran. Die neue Protestwel­le, die am Montag mit einem Lehrerund Studentens­treik in eine neue Runde ging, habe die Säulen der Macht erschütter­t. „Wir sehen eine schnelle Erosion der gesellscha­ftlichen Basis für das Regime“, sagt er.

Im Iran gibt es bisher allerdings keine Anzeichen für massenhaft­e Befehlsver­weigerunge­n bei den Sicherheit­skräften. Einige Iran-Experten sehen die Chancen für die Opposition deshalb skeptisch. „Es steht kein politische­r Umsturz bevor“, sagte Adnan Tabatabai vom Bonner Nahost-Forschungs­zentrum Carpo dem WDR. Zwar werde „die Spaltung der Gesellscha­ft von Protest zu Protest größer“. Doch der Sicherheit­sapparat sei zu stark.

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AFP Der Ajatollah ist unter Druck – aber wohl noch nicht am Ende

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