ANALYSE Die Säulen der Macht Chameneis wanken
Die Protestwelle im Iran reißt nicht ab. Experten sehen eine Erosion der Unterstützung für die Theokratie.
in den Treppenhäusern unterwegs, aber die haben nicht einmal eine Liste der Wähler, die sie aufsuchen sollen“, sagt Stanislaw. Wie das Portal spektr.press unter Berufung auf Augenzeugen schreibt, scheren sich die Wahlkommissare und ihre bewaffneten Leibwächter nicht um das Recht auf eine geheime Wahl. „Sie verbaten sich, dass die Bewohner einen anderen Raum aufsuchten, um ihren Wahlzettel auszufüllen.“
Zugleich kursieren Gerüchte, nach dem Referendum wollten die Besatzer die männliche Bevölkerung zum Kriegsdienst zwingen, wie zuvor in Donezk und Luhansk. Stanislaw glaubt nicht daran. „Die Russen werden es kaum wagen, Waffen an Menschen zu verteilen, die ihnen feindlich gesinnt sind.“
Schon seit zehn Tagen bekommt das iranische Regime die Proteste nicht in den Griff, die Protestierenden schöpfen neue Hoffnung auf einen Sturz der Regierung. Aus ihrer Sicht markiert die Welle von Demonstrationen seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionspolizei den Anfang vom Ende des theokratischen Systems, das den Iran seit 1979 beherrscht. Auch einige Iran-Kenner im Ausland sehen eine Chance dafür. „Es ist durchaus möglich, dass sich die Proteste zu einem nationalen Aufstand wandeln, der das Regime entmachtet“, sagt Arash Azizi, Iran-Experte und Buchautor in den USA.
Noch vor zwei Wochen war diese Aussicht nicht erkennbar. Zwar klagten viele Iraner über Inflation, Arbeitslosigkeit, Korruption, Umweltprobleme und Gängelei durch die Religionspolizei. Doch kaum jemand konnte sich vorstellen, dass das System mit dem 83jährigen Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei an der Spitze innerhalb weniger Tage so unter Druck geraten würde.
Die Gefolgschaft vieler der 80 Millionen Iraner haben Chamenei und die Regierung längst verloren. Die Islamische Republik wurde zwar mit dem Anspruch gegründet, die kleinen Leute zu schützen, hat sich aber zu einem korrupten Apparat entwickelt, in dem nur wenige eine Chance haben.
Die Macht des Regimes im Iran ruht auf vor allem auf dem hochgerüsteten Sicherheitsapparat. Die Revolutionsgarde, die Khamenei persönlich untersteht, verfügt über mehr als 100.000 Soldaten und eine Freiwilligen-Miliz – die Basidsch – mit Hunderttausenden weiteren Kämpfern, die bei Bedarf mobilisiert werden können. Die Garde versteht sich als Beschützerin der Islamischen Republik und hat sich die Kontrolle über weite Teile der Wirtschaft gesichert. Eine weitere Stütze des Regimes sind Geschäftsleute, die dank ihrer Nähe zur Revolutionsgarde reich geworden sind. „Man kann sie mit den Oligarchen in Russland vergleichen“, sagt Iran-Experte Azizi.
Von Chicago aus beobachtet Azizi die Proteste und spricht mit Bekannten und Kontakten im Iran. Die neue Protestwelle, die am Montag mit einem Lehrerund Studentenstreik in eine neue Runde ging, habe die Säulen der Macht erschüttert. „Wir sehen eine schnelle Erosion der gesellschaftlichen Basis für das Regime“, sagt er.
Im Iran gibt es bisher allerdings keine Anzeichen für massenhafte Befehlsverweigerungen bei den Sicherheitskräften. Einige Iran-Experten sehen die Chancen für die Opposition deshalb skeptisch. „Es steht kein politischer Umsturz bevor“, sagte Adnan Tabatabai vom Bonner Nahost-Forschungszentrum Carpo dem WDR. Zwar werde „die Spaltung der Gesellschaft von Protest zu Protest größer“. Doch der Sicherheitsapparat sei zu stark.