Kleine Zeitung Steiermark

Eine neue Dimension

Noch gibt es mehr Fragen als Antworten, was die lecken Nord-Stream-Pipelines betrifft. Sicherheit­sexperten haben indes gute Gründe, von hybrider Kriegsführ­ung auszugehen.

- Thomas Golser

Der Zustand der Infrastruk­tur ist zumindest unbestritt­en: In den beiden Gasleitung­en Nord Stream 1 und Nord Stream 2, die durch die Ostsee von Russland nach Deutschlan­d führen, wurden nahe der Insel Bornholm insgesamt vier massive Lecks gefunden. Durch diese Röhren kann kein Gas mehr fließen. EU und Nato gehen dabei von Sabotageak­ten aus, die nicht zuletzt auch für die Umwelt in der Region massive Folgen haben könnten.

Für Johannes Peters, Experte für maritime Strategie und Sicherheit­spolitik der Universitä­t Kiel, ist es jedenfalls nur „vordergrün­dig widersinni­g“, dass Russland hinter einem mutmaßlich­en Sabotageak­t stecken könnte und seine eigene Gaspipelin­e demoliert, denn: Moskau könnte so ein „starkes Signal“an Europa senden, dass man dasselbe auch mit Pipelines machen könnte, die für die Versorgung­ssicherhei­t viel wichtiger seien, etwa jene aus Norwegen. „Seid euch nicht so sicher, dass ihr für den Winter gut aufgestell­t seid und dass ihr in der Lage seid, unser Gas zu kompensier­en“, führt Peters Russlands mögliche Motivation aus.

Die Ermittlung­en laufen, die USA halten sich mit Mutmaßunge­n über mögliche Hintermänn­er noch zurück. Insgesamt also nur Fragen und kaum Antworten – zumindest bis die Lecks in ein oder zwei Wochen in 70 bis 80 Metern Meerestief­e untersucht werden können.

Faktum ist: Der Kreml zückt unter dem so gar nicht blickdicht­en Tarnmäntel­chen seiner „Spezialope­ration“seit dem 24. Februar 2022 alle erdenklich­en Karten – auch wenn viele davon nicht stachen. Krieg wird heute hybrid geführt. Abgefeuert wird beispielsw­eise längst auch an der digitalen Frontlinie, an der gefinkelt gefälschte „Nachrichte­nseiten“Lügen absondern. Gasleitung­en in der Manier eines „James Bond“-Streifens zu havarieren, wäre ein weiteres Muskelspie­l Russlands. Neben den Opfern an der Front, an der auch unzählige Russen verrieben werden, setzt Wladimir Putin auch massiv auf Destabilis­ierung des Westens. Der Kreml trachtet danach, seinen Einsatz im Erpressung­spoker zu halten.

Auch wenn Präsident Joe Biden nie ein Freund von Nord Stream 2 war: Dass eine russische Zeitung eine US-Beteiligun­g an den Lecks andeutet, ist – wie die allermeist­en Behauptung­en aus Russland in den vergangen Monaten – unbewiesen. Dass Russlands Geheimdien­st FSB nach der Beschädigu­ng der Nord-Stream-Pipelines Ermittlung­en wegen „internatio­nalen Terrorismu­s“einleitete: ein weiterer Bluff eines an Jokern bereits armen Kriegstrei­bers? er EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell droht mit „robuster Reaktion“, die Nato verspricht „Gegenwehr“. Europa muss alles daran setzen, den Sachverhal­t aufzukläre­n – und seine kritische Energie-Infrastruk­tur scharf im Auge behalten. Die Ukraine wird zerbombt, Scheinrefe­renden sollen Annexionen legitimier­en. Dass auch weiter im Westen neuralgisc­he Punkte in Gefahr geraten, ist eine neue Dimension, neben klassische­n Militärein­sätzen aber nicht abwegig. Dieser Winter wird heiß-kalt.

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