Das Lehrstück namens Leben
Ian McEwan, der große Souverän der britischen Literatur, verbindet in seinem neuen Roman „Lektionen“Menschengeschichten mit Weltgeschichte. Ein literarisches Kunststück, das nie gekünstelt wirkt.
So viel Welt, so viel Leben, so viele Geschichten und Abzweigungen; einem Autor mit geringerem Gewicht wäre dieser mehr als 700 Seiten starke Stoff wohl krachend um die Ohren geflogen. Doch Ian McEwan, dieser tiefschürfende und weitblickende literarische Souverän, der das Große stets im Kleinen abzubilden vermag, stemmt auch diese Last, wenngleich er sich augenzwinkernd der Gefahr des „Too much“bewusst ist. Ganz am Ende dieses Romans heißt es: „Eine Schande, eine gute Geschichte für eine Lektion zu missbrauchen.“
„Lektionen“, der neue Roman McEwans, ist weit von einer Schande entfernt. Vielmehr ist er ein glanzvolles, würdiges Spätwerk des 74jährigen Briten, das aber nie mit billiger Altersweisheit triumphiert. In einem großen, überlappenden Erinnerungsstrom lässt Roland Baines sein Leben an sich vorbeifließen; ein Leben, das beschädigt wurde durch eine frühe Zäsur. Ein Kind noch an der Schwelle zum Jugendlichen, wird Baines von seiner Klavierlehrerin verführt, im strafrechtlichen Sinn missbraucht. Diese für den Jüngling ebenso geile wie gif
tige Affäre deformiert das Verhältnis des späteren Mannes zu den Frauen. Nur Alissa, eine Deutsche, scheint den Strauchelnden auffangen zu können, doch sie verlässt nach kurzer Beziehung Mann und Kind, um sich als Schriftstellerin zu verwirklichen – mit Erfolg.
In diese wunderbar mäandernden Menschengeschichten baut McEwan Eckpfeiler der Weltgeschichte ein: den Mauerfall, Tschernobyl, die Kuba-Krise, den Sturm auf das Kapitol, die Coronapandemie. Doch das wirkt nicht aufgepfropft, weil das Große eben immer parallel zum
Kleinen passiert. Roland Baines, „ein rastloser Narr“– inzwischen Großvater –, erinnert ein Leben, das ihm mittelmäßig gelungen ist. Diese Durchschnittlichkeit schildert Ian McEwan in einem Ton mitfühlender Gelassenheit. An einer Stelle dieses Buches heißt es: „ ... dass die Welt sich in jedem nur erdenklichen Moment in eine Unendlichkeit unsichtbarer Möglichkeiten aufspaltet.“
Um all diese Welten in eine ebenso intelligente wie berührende Geschichte zu gießen, muss man schon ein Welt-Meister sein und Ian McEwan heißen.