Sehnsucht nach der Natur
Calixto Bieito verknüpft Mahlers „Das klagende Lied“mit den „Kindertotenliedern“. Mit wechselhaftem Erfolg.
Wie viel Natur braucht der Mensch? Auf jeden Fall mehr als das kümmerliche Häuflein Erde, in welches die Weißgekleideten auf der Staatsopernbühne einen Blumenstock mit roten Blüten eingraben. Die Natur, die Denken und Logik des Menschen so lange geprägt hat, ist die große Abwesende, wenn der Regisseur Calixto Bieito das Märchen vom singenden Knochen erzählt. Auch das steckt ja voller Natur und Naturmetaphern und ist einem Weltverständnis ganz nahe, das von Bücherwissen und Technologie verbaut ist.
Ein weißer Raum, steril und kahl, ist der Hort dieser digitalen Welt, eines neuen, düsteren Zeitalters, das der Regisseur gern ins Treffen führt. Im zweiten Teil bricht das Wurzelwerk eines Baumes durch das Bühnendach: Aber auch das ist keine Natur, sondern ein Kabelsalat, ein schreckliches Ding aus elektronischen Leitungen, an das sich ersatzhandelnde Choristen sehnsüchtig schmiegen.
Leider bleibt Bieitos Übertragung des Märchenspiels „Das klagende Lied“– einem Frühwerk Gustav Mahlers, das nicht an die Kompositionen seiner Reifezeit heranreicht – völlig farblos, obwohl der Regisseur seine hinlänglich bekannte (mittlerweile oft stark dosierte) szenische Drastik auf die originalen Gräuel des Märchens fast nahtlos aufsetzen kann. Aber die Musik gibt einfach kein Drama her.
Im Gegenteil zu den „Kindertotenliedern“, einem niederschmetternden Meisterwerk, das zu Mahlers besten Werken zählt. Sie sind zwar ebenfalls wie „Das klagende Lied“nicht dramatisch, aber
so voller Bilder und Stimmungen, sodass man im Grunde nichts tun muss, damit sie ihre Wirkung entfalten. Bieito setzt auf diese Reduktion: Während ein Paar seine Trauerbewältigung in Gesang fasst, lässt Bieito einige Kinder native Wandmalereien in fluoreszierenden Farben auftragen, die in der Dunkelheit nachleuchten. So einfach, so packend.
Musikalisch ist das gelungen, weil Lorenzo Viotti am Pult des Staatsopernorchesters einen unpathetischen Mahler voller schöner Artikulationen spielen lässt. Das Wienerische, das zu Herzen gehende dieser Musik bleibt dabei unterbeleuchtet. Gesungen wird ordentlich, aber nicht überragend. Alt Tanja Ariane Baumgartner interpretiert die „Kindertotenlieder“beeindruckender als Florian Boesch, der kaum ein Legato hören lässt, aber trotz seiner Kurzatmigkeit erhebliche Ausdruckstiefe beisteuert.