Schnitzelklopfen bei den Verlorenen
Besuch im Marienstüberl Graz, einer segensreichen Einrichtung für Gestrandete.
Nora reckt das Häferl mit dem brennend heißen Kaffee in die Höhe wie ein Flammenschwert. In diesem Moment scheint alles möglich. Sie könnte das Geschoss den Männern, die an den Esstischen sitzen, aus Wut an den Kopf werfen. Die Frau entscheidet sich in der Bewegung anders und schleudert die Schale auf den eigenen Tisch. Zurück bleibt die Kerbe im Holz und der verschüttete Kaffee. Die Frau kommt zu sich und hält erschrocken inne. „Nora, du musst jetzt gehen, aber wir haben dich lieb“, sagt Schwester Elisabeth vom Marienstüberl der Grazer Caritas, einer segensreichen Einrichtung für Gestrandete, die mehr werden. Nora weint.
Die Szene soll sich so zugetragen haben. Die Kerbe im Tisch ist noch immer da. Ein Caritas-Mitarbeiter erzählt die Begebenheit. Und er erzählt von Nora. Sie sei Ende vierzig und in Ungarn zwischen Kinder- und Pflegeheim elternlos aufgewachsen. Später kam sie nach Österreich. Zuhälter zwangen sie zur Prostitution. Sie hat sich aus dem Milieu befreit, aber unbefangen auf Männer zugehen kann sie nicht mehr. Bei jeder Begegnung kämen die Bilder von erlittenen Misshandlungen in ihr hoch und mit ihnen die übermächtigen Gefühle von Panik, Angst und Abwehr. a ist auch Karol, der gebürtige Pole. Er hat für eine Baufirma in Österreich gearbeitet und mit dem hart verdienten Geld in seiner Heimat Jahr für Jahr am kleinen Haus gebaut. Er und seine Frau wollten darin einmal einziehen und glücklich werden. Als Karol heimkehrte, lebte die Frau bei einem anderen. Das fertige Haus
Dihr zugesprochen, Karol kehrte als Karl obdachund arbeitslos nach Graz zurück. Jetzt sitzt er da und wartet auf die Gemüsesuppe und das Putenschnitzel. Es sei ein Feiertagsessen, auch wenn kein Feiertag ist. Dann sei der Saal immer voll. Man kennt sich. Man ist im Großen und Ganzen gut zueinander. Man lässt sich in Ruhe und lässt in den zwei gemeinsamen Stunden jedem seine Verlorenheit.
Zwei Tische weiter sitzt Hans. Er trägt einen Sweater mit rosaroten Palmen und der Aufschrift Los Angeles. Am Kopf hat er eine schwarze Kappe auf mit den Initialen von New York. Hans war noch nie in L. A., und er war noch nie in New York, deshalb trägt er beides, damit er dort ist. Als er 14 war, hat sich die Mutter scheiden lassen und ist weggezogen nach Wien. Er sei allein zurückgeblieben und lebe mit dem Trauma wie mit einem dunklen Schatten, der nie weicht. Vor Kurzem habe sich die Mutter vom Stiefvater getrennt oder er sich von ihr, und jetzt sei sie es, die einsam zurückbleibe. Es kommt ihm vor, als spiegle sich in der fernen, abwesenden Mutter zwanghaft sein eigenes Schicksal. So deutet er es, so unterwirft er sich ihm. Den Job beim Billa hat er vor Jahren verloren. Er ist krank geworden und arbeitslos. Allein schaffe er es nicht mehr ins Leben zurück. Wenn die kranke Seele es zulässt, will er es wieder versuchen, vielleicht mit zwei Tagen in der Woche. Er war einmal Filialleiter. Jetzt freut er sich auf die Pute. ie Gäste mit den umgebundenen schwarzen Schürzen und der überspielten Beklommenheit haben es besser. Wir hawurde
Dben in der Früh die Arbeitstaschen, die Sakkos und die Mäntel im Vorzimmer abgelegt und haben an diesem Vormittag 140 Schnitzel geklopft und paniert, haben Zwiebel und Erdäpfel für den Salat geschnitten und den Wagen mit den tellerrandgroßen Putenstücken durch die Reihen geschoben. Wir haben dankbare und apathische Blicke geschenkt bekommen und manchmal ein Lächeln. Wir durften nach dem Reinigen der Großküche wieder hinaus ins Freie und mussten keine Geschichten erzählen von Brüchen und dunklen Schatten.
Draußen im Innenhof haben sie gerade von einem Diskonter Kartons mit zusammengepressten Sonnenblumen ausgeladen. Die Gabe war wohl gut gemeint, aber nicht sehr zweckdienlich. Die, die an diesem nasskalten Tag mit ihren schreienden Kleinkindern zur Lebensmittelausgabe kommen und sich für das überprüfte abgelaufene Obst und Gemüse anstellen, haben keine Vasen daheim stehen. Die Mitarbeiter rätseln, was sie jetzt mit den vielen Sonnenblumen tun sollen. Drinnen im vollen, warmen Saal des Marienstüberls greift Schwester Elisabeth, ein Ausbund von zugewandter Resolutheit, zum Mikrofon und beginnt mit dem Tischgebet. Die meisten stimmen mit ein. Es ist ein stilles, versöhntes Murmeln, das den Saal durchzieht. Als einer polternd „Aufhören!“ruft, erhebt sich eine junge Frau mit ihren schönen, langen Rastazöpfen, eilt auf den Störenfried zu, packt ihn an den Armen und bringt ihn unter mahnenden Flüchen jäh zum Verstummen.
Es ist Nora.