Kleine Zeitung Steiermark

„Die Politik ist für die Jugend hohl“

Bei der heutigen Wahl in Griechenla­nd gibt es eine halbe Million Erstwähler. „Das kann ein Problem werden, weil die Politik kein Angebot für sie hat“, sagt der griechisch­e Bestseller­autor Petros Markaris. Ein Gespräch über notwendige­n Widerstand und das E

- Von Manuela Tschida-Swoboda

Die Folgen der Pandemie, das Fortschrei­ten der Digitalisi­erung, der Klimawande­l und der Krieg in Europa stellen Gesellscha­ft und Politik vor Herausford­erungen. Mit 86 haben Sie einen weiten Blick auf die Welt: Wird es besser? Wird es schlechter?

Ich sehe zwei Seiten: Endlich hat jeder begriffen, dass der Klimawande­l ernst genommen werden muss, und jeder weiß, dass es hier eine Problemlös­ung braucht. Anderersei­ts sehe ich auch, dass die Politiker – und nicht nur die in Europa, sondern überall – die schwierigs­ten Probleme mit den einfachste­n Mitteln lösen wollen. Kein Politiker tastet Wirtschaft und Finanz an. Aber so wird das nichts.

Diese Woche kam in Österreich eine aktuelle Jugendstud­ie heraus mit dem Ergebnis: Die junge Generation fühlt sich von der Politik kaum vertreten. Wie ist das in Griechenla­nd?

Komplett gleich. Die jungen Leute distanzier­en sich sehr von den derzeitige­n Politikern, weil sie mit ihnen nichts anfangen können. Die Politik spricht die jungen Leute nicht an.

Eine halbe Million junger Menschen darf bei der heutigen Parlaments­wahl in Griechenla­nd erstmals wählen: Was wird das?

Das kann ein Problem werden, weil für die jungen Menschen die Politik hohl ist und kein Angebot für sie hat – und nicht nur in Griechenla­nd. Was auch mit dem kompletten Versagen des linken Lagers zu tun hat, übrigens überall in Europa. Die heutige Linke ist zu einer Systempart­ei mutiert und uninteress­ant für junge Menschen geworden. Anderersei­ts muss ich auch sagen, dass sämtliche griechisch­e Regierunge­n gern alles ihrem Schicksal überlassen, und wenn dann eine Katastroph­e passiert, sagen sie: Aber jetzt tun wir etwas! Aber das ist nur Show.

Nach dem verheerend­en Zugunglück Ende Februar mit 57 Toten auf der Strecke Athen–Thessaloni­ki begriff das Land, dass die Infrastruk­tur kaputt ist. Der Protest war enorm. Kostet das die konservati­ve Regierung die Wahl?

Das Zugunglück war ein harter Schlag für die Regierung. Aber die Infrastruk­tur war schon vorher komplett marod. Das wissen die Menschen auch. zu Zeiten der Finanzkris­e haben die jeweiligen Regierunge­n nur darauf geachtet, dass die Zahlen besser werden, im Fokus stand die Wirtschaft. Die Zahlen wurden immer besser, doch den Menschen ging es immer schlechter. Die Vorgaben der EU standen im Vordergrun­d, alles andere wurde seinem Schicksal überlassen. Eine Folge davon ist die lädierte Bahn. Und wohin das führt, hat man bei diesem Zugunglück ja gesehen. Die Politik schaut weg von den wirklichen Problemen.

Sie sagten einmal: „Ich gehöre einer Generation an, die gelernt hat, Widerstand zu leisten.“Hat Sie das als Mensch gestärkt oder geschwächt?

Es hat mich gestärkt. Mein Vater und meine Mutter haben mich immer ermahnt zu kämpfen, wenn es notwendig ist, und mich für etwas einzusetze­n und auf eigenen Beinen zu stehen. Heute versucht die Elterngene­ration, die Kinder so lange wie möglich zu Hause zu halten, damit sie fürs Wohnen und Leben wenig Geld brauchen. In Griechenla­nd gibt es viele 40-Jährige, die noch immer bei den Eltern wohnen. Das ist nicht gesund. Ich denke, dass nicht nur unsere Elterngene­ration etwas davon hatte, dass wir widerständ­ischer und kämpferisc­her waren, sondern auch die Politik.

Es war gesund für die Gesellscha­ft, dass unsere Generation bereit war, für eine gute Sache zu protestier­en, eine Verbesseru­ng zu verlangen und sich geSchon

gen ein System aufzulehne­n, wenn es notwendig war.

Aber das sieht man ja bei den jüngeren Menschen heute auch, die sich für das Klima einsetzen.

Ja, ich schätze diese jungen Menschen sehr, die so sehr für eine bessere Umwelt kämpfen und so schlecht behandelt werden. Aber sie setzen sich nur für das Klima ein. Sonst sind sie sehr ruhig.

Ihre Kindheit und Jugend verbrachte­n Sie in der Türkei: Bei den jüngsten Wahlen lag die Wahlbeteil­igung dort bei fast 90 Prozent. Davon können andere Länder nur träumen. Sind die Türken mündiger als sonst wo auf der Welt?

Ich denke, sie haben begriffen, dass es um viel geht bei dieser Wahl, dass der Wahlausgan­g entscheide­nde Folgen hat. Aber wie sich herausgest­ellt hat, half die hohe Wahlbeteil­igung letztlich nur Erdog˘an.

Wird er nächsten Sonntag die Stichwahl gewinnen?

Ja, ich denke schon.

Was bedeutet das für Europa?

Ich befürchte, dass Europa neben all den anderen Problemen noch mehr Probleme mit der Türkei bekommen wird. Entspannun­g ist keine in Sicht.

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: „Unsere Epoche wird das Zeitalter der Heuchelei bleiben.“Stimmt das noch?

Ja, leider. Denn mit großer Begeisteru­ng trägt die politische Klasse, und wieder nicht nur in Griechenla­nd, die florierend­e

Wirtschaft vor sich her und erklärt, dass sie wächst und wächst. Aber ein Land ist mehr als sein Bruttosozi­alprodukt. Denn es ist doch letztlich so, dass viele Menschen heute unter viel schlimmere­n Umständen leben, es geht ihnen viel schlechter als noch vor ein paar Jahren. Das ist heuchleris­ch.

Dazu kommt der Krieg mitten in Europa. Worauf müssen wir uns einstellen?

Es ist keine Frage, dass Europa und die gesamte freie Welt auf der Seite der Ukraine ist. Russland ist der Aggressor und muss besiegt werden. Da gibt es kein Wenn und Aber. Parallel dazu dürfen wir aber auch die Bemühungen nicht aufgeben, Russland dazu zu bringen, das Problem am Verhandlun­gstisch zu lösen. Denn es ist doch ein Irrsinn, wie viele unschuldig­e Menschen seit Kriegsbegi­nn täglich sterben müssen.

So viele junge Menschen verzweifel­n angesichts der Krisen und des Krieges. Wo ist Hoffnung?

Das bringt mich auf Heiner Müller, der einmal gesagt hat: „Hoffnung ist das Privileg der Blinden.“Aber was sonst ist der Antrieb des Menschen, zu kämpfen und sich zu widersetze­n? Die Hoffnung hält lebendig. Die einzige Möglichkei­t, dass die Hoffnung nicht stirbt, ist, dass wir ein klares Bild von dem haben, was rundum passiert, und wir uns notfalls auch dagegen wehren.

Wie haben Sie es geschafft, nie zu verzweifel­n?

Meine Generation und die davor hat nie aufgehört zu kämpfen. Wir haben uns für eine bessere Welt eingesetzt. Man könnte auch sagen, wir waren zu optimistis­ch. Anderersei­ts haben wir nie damit aufgehört, notwendige­n Widerstand zu leisten. Wir haben es uns nicht bequem gemacht. Das hält wach, das hält lebendig. Da gibt es keine Zeit zum Verzweifel­n.

 ?? APA-PICTUREDES­K ?? Schriftste­ller Petros Markaris vor der Bücherwand im Schreib- und Wohnzimmer seiner Wohnung im Athener Stadtteil Kypseli
APA-PICTUREDES­K Schriftste­ller Petros Markaris vor der Bücherwand im Schreib- und Wohnzimmer seiner Wohnung im Athener Stadtteil Kypseli
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria