Zeitenwende, die zweite
„Krieg in Europa!“Dieser Schreckensruf war schon vor über 20 Jahren zu hören – in Jugoslawien. Manche hindert das nicht, von „77 Jahren ohne Krieg“zu sprechen, die mit Putins Überfall auf die Ukraine geendet seien.
Es war kein Rechenfehler. Manche mögen den sogenannten Balkan nicht zu Europa gerechnet haben. Andere haben das Geschehen vielleicht noch ferner in der Vergangenheit angesiedelt, verleitet von dem unzeitgemäßen nationalen Pathos und dem Mythenschwulst, die damals dort grassierten. Wieder andere dürften die Jugoslawienkriege gar nicht in die Rubriken „Zeitgeschichte“oder „Weltpolitik“eingeordnet haben, sondern samt und sonders in die Rubrik „Verbrechen“– nachdem zwei Jahrzehnte lang allein das Kriegsverbrechertribunal die Erinnerung an die Gräuel wachgehalten hat. So gut wie alle aber haben wir versäumt, aus den kriegerischen 1990er-Jahren Lehren zu ziehen. Im Gegenteil: Im Rückblick, aus dem Schock der russischen Invasion in die Ukraine, erscheint der blutige Zerfall Jugoslawiens bloß als Vorausdeutung zum Heute, und Slobodan Miloˇsevic´ und Wladimir Putin sind nur zwei Avatare des ewigen Bösen.
Es könnte ein gutes Zeichen
wenn ein Krieg so rasch vergessen wird. Aber er wurde nur verdrängt – und Verdrängtes kehrt bekanntlich unerledigt wieder. Tatsächlich haben die vier Kriege im ehemaligen Jugoslawien – einer von wenigen Tagen in Slowenien 1991, einer in Kroatien im Rest jenes Jahres, der dreieinhalbjährige von 1992 bis 1995 in Bosnien und Herzegowina und der hochdramatische um den Kosovo 1998/99 – Europa, die ganze Welt und nicht zuletzt die politischen Frontlinien in den westlichen Demokratien entscheidend verändert. Besonders gilt das für den letzten: den um den Kosovo.
mit dem Krieg in der europäischen Nachbarschaft? Über die Frage tat sich damals in Paris, in Bonn und Wien eine bis dahin ungekannte Trennlinie auf, quer zu den vertrauten Kategorien rechts und links: Viele Konservative, aber auch Spontis und manche Pazifisten plädierten, um das Sterben zu beenden, leidenschaftlich für militärische Interventisein,