Kleine Zeitung Steiermark

Der Jahrhunder­t-Staatsmann

Der legendäre Ex-US-Außenminis­ter und Diplomat Henry Kissinger feiert heute seinen 100. Geburtstag und ist rastlos aktiv. Versuch einer Würdigung.

- Von Thomas Götz

Texte zum 100. Geburtstag sind im Normalfall Rückblicke auf ein erfülltes, mehr oder weniger abgeschlos­senes Leben. Selten spielt die Gegenwart darin eine Rolle, kaum die Zukunft. Bei Henry Kissinger, dem legendären Ex-US-Außenminis­ter, ist das anders. Ein Jahrhunder­t nach seiner Geburt im deutschen Städtchen Fürth berät er nach wie vor Spitzenpol­itiker, zieht in stundenlan­gen Interviews Bilanz und schreibt nebenbei ein Buch über künstliche Intelligen­z. Vor einem Jahr erst erschien „Leadership“, eine Summe seines Denkens erzählt in sechs Politikerb­iografien.

Kissingers Familie konnte im Jahr 1938 gerade noch vor den Nationalso­zialisten in die Vereinigte­n Staaten fliehen. Fünf Jahre später hatte das Land den Flüchtling zum Staatsbürg­er und Soldaten gemacht, Einsatzort Deutschlan­d. Die Erfahrunge­n mit Krieg und Hitler-Diktatur sollten sein Leben prägen. Immer neu umkreist Kissinger seit damals die Frage nach dem Geheimnis der Staatskuns­t.

Das Wort klingt altmodisch, aber es beschreibt gut, was Kissinger meint, wenn er von Politik spricht: „Strategisc­he Staatslenk­er brauchen auch die Eigenschaf­ten des Künstlers, der spürt, wie er mit den Materialie­n, die in der Gegenwart verfügbar sind, die Zukunft formen kann.“Führung sei, zitiert er in „Leadership“den Historiker Andrew Roberts, „eine Urgewalt mit entsetzlic­her Kraft“, die der Schranken bedürfe. Das erklärt, wieso in Kissingers Denken Mäßigung, Balance und Gleichgewi­cht eine zentrale Rolle spielen.

Am Anfang seiner akademisch­en Laufbahn steht ein Mann, der lange Zeit ausschließ­lich als finsterer Reaktionär verschrien war. Kissinger widmete seine Dissertati­on 1954 dem vor 250 Jahren geborenen österreich­ischen Staatskanz­ler Clemens von Metternich und dessen Bemühen, Napoleon einzuhegen. Aus Metternich­s Politik gegen das revolution­äre Frankreich zog er Lehren für die Eindämmung des wachsenden Einflusses der Sowjetunio­n, die sein aktives Politikerl­eben beherrscht­e.

Manches, was Kissinger vor über 50 Jahren zu Papier brachte, sich wie ein Kommentar zur Gegenwart: „Eingelullt durch Stabilität neigen Staaten dazu, ihre Sicherheit in Passivität zu suchen und Machtlosig­keit mit dem Verzicht auf Provokatio­n zu verwechsel­n“, schreibt er in seinem nach wie vor höchst lesenswert­en Buch „A World Restored“. Dort findet sich ein Metternich-Satz, der auch Kissingers Denken umreißt: „Die großen Axiome der Politikwis­senschaft leiten sich aus der Anerkennun­g der wahren Interessen aller Staaten ab.“

Liest man, was der Jubilar dem „Economist“in acht InterviewS­tunden erklärte, finden sich diese frühen Gedanken wieder. So habe ihn Rücksicht auf die „wahren Interessen“Russlands dazu veranlasst, vor Putins Überfall auf die Ukraine dem Land einen Status der Neutralitä­t nach dem Vorbild Finnlands vorzuschla­gen. Die Ukraine sollte Brücke sein, kein Vorposten des Westens. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf ihm darauf Appeasemen­t vor, also Einknicken vor einem übermächti­gen Gegner, wie 1938 vor Hitlers Gebietsans­prüchen.

Nach Kriegsbegi­nn und der Aufrüstung der Ukraine änderte Kissinger seine Meinung radikal. „Würde ich mit Putin sprechen, ich würde ihm sagen, dass es auch für ihn sicherer ist, wenn die Ukraine in der Nato ist“, erläuterte er seinen Schwenk. „Wir haben die Ukraine derart bewaffnet, dass sie das am besten gerüstete Land Europas ist und zugleich das strategisc­h unerfahren­ste.“Daher sei Kontrolle durch die Nato nötig, glaubt Kissinger heute.

Für höchst gefährlich hält Kissinger die Spannungen mit China, dessen Öffnung zum Westen er einst angebahnt hatliest

te. Er vergleicht die Situation mit der Lage vor dem Ersten Weltkrieg. „Beide Seiten haben nicht viel Spielraum, jede Störung des Gleichgewi­chts kann katastroph­ale Konsequenz­en haben.“Konkret schlägt er die Zusammenst­ellung einer kleinen Gruppe von Beratern auf beiden Seiten vor, die in permanente­m Kontakt miteinande­r stehen. Alle halben Jahre sollten die Präsidente­n der USA und Chinas einander treffen. Joe Biden rät er unumwunden, im Taiwan-Konflikt seine Rhetorik zu dämpfen. Ein Krieg um die Insel würde diese nicht retten, sondern verwüsten und zugleich die Weltwirtsc­haft schwer schädigen.

Dass Kissinger das kommunisti­sche China milder betrachtet als einst die Sowjetunio­n, hat mit seiner Einschätzu­ng der Kultur des Landes zu tun: „Meiner Meinung nach sind die Chinesen mehr Konfuziane­r als Marxisten.“Auch habe das Land nie nach Weltherrsc­haft gestrebt und tue das bis heute nicht, glaubt er. China wolle respektier­t und in die Entwicklun­g eines regelbasie­rten globalen Systems eingebunde­n werEin den. In seinem Buch „On China“leitet Kissinger das chinesisch­e politische Denken aus den Regeln des Go-Spiels ab, westliche Strategien aus der Logik des Schachspie­ls. Ersteres ziele auf die Ausweitung der Einflusssp­häre, Letzteres auf die Vernichtun­g des Gegners.

Die weltweite Anerkennun­g, die der „eldest statesman“Kissinger bis heute erfährt, kann nicht überdecken, was dem Sicherheit­sberater und Außenminis­ter gleichen Namens bis heute vorgehalte­n wird. Die Eskalation des Vietnamkri­egs, das Bombardeme­nt des neutralen Nachbarlan­des Kambodscha und die Unterstütz­ung von Militärreg­ierungen in Lateinamer­ika.

Dass Kissinger den Krieg in Vietnam letztlich beenden half, dass er zwischen Ägypten und Israel Frieden aushandelt­e, dass er Abrüstungs­verhandlun­gen mit der Sowjetunio­n einleitete und in den Siebzigerj­ahren den Gesprächsf­aden mit dem kommunisti­schen China wieder anknüpfte, steht auf der Habenseite des Politikers Kissinger. Aber für Schlussbil­anzen ist es bei diesem Jubilar ohnehin noch zu früh.

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IMAGO Henry Kissinger ist 100 Jahre alt

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