Der Jahrhundert-Staatsmann
Der legendäre Ex-US-Außenminister und Diplomat Henry Kissinger feiert heute seinen 100. Geburtstag und ist rastlos aktiv. Versuch einer Würdigung.
Texte zum 100. Geburtstag sind im Normalfall Rückblicke auf ein erfülltes, mehr oder weniger abgeschlossenes Leben. Selten spielt die Gegenwart darin eine Rolle, kaum die Zukunft. Bei Henry Kissinger, dem legendären Ex-US-Außenminister, ist das anders. Ein Jahrhundert nach seiner Geburt im deutschen Städtchen Fürth berät er nach wie vor Spitzenpolitiker, zieht in stundenlangen Interviews Bilanz und schreibt nebenbei ein Buch über künstliche Intelligenz. Vor einem Jahr erst erschien „Leadership“, eine Summe seines Denkens erzählt in sechs Politikerbiografien.
Kissingers Familie konnte im Jahr 1938 gerade noch vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten fliehen. Fünf Jahre später hatte das Land den Flüchtling zum Staatsbürger und Soldaten gemacht, Einsatzort Deutschland. Die Erfahrungen mit Krieg und Hitler-Diktatur sollten sein Leben prägen. Immer neu umkreist Kissinger seit damals die Frage nach dem Geheimnis der Staatskunst.
Das Wort klingt altmodisch, aber es beschreibt gut, was Kissinger meint, wenn er von Politik spricht: „Strategische Staatslenker brauchen auch die Eigenschaften des Künstlers, der spürt, wie er mit den Materialien, die in der Gegenwart verfügbar sind, die Zukunft formen kann.“Führung sei, zitiert er in „Leadership“den Historiker Andrew Roberts, „eine Urgewalt mit entsetzlicher Kraft“, die der Schranken bedürfe. Das erklärt, wieso in Kissingers Denken Mäßigung, Balance und Gleichgewicht eine zentrale Rolle spielen.
Am Anfang seiner akademischen Laufbahn steht ein Mann, der lange Zeit ausschließlich als finsterer Reaktionär verschrien war. Kissinger widmete seine Dissertation 1954 dem vor 250 Jahren geborenen österreichischen Staatskanzler Clemens von Metternich und dessen Bemühen, Napoleon einzuhegen. Aus Metternichs Politik gegen das revolutionäre Frankreich zog er Lehren für die Eindämmung des wachsenden Einflusses der Sowjetunion, die sein aktives Politikerleben beherrschte.
Manches, was Kissinger vor über 50 Jahren zu Papier brachte, sich wie ein Kommentar zur Gegenwart: „Eingelullt durch Stabilität neigen Staaten dazu, ihre Sicherheit in Passivität zu suchen und Machtlosigkeit mit dem Verzicht auf Provokation zu verwechseln“, schreibt er in seinem nach wie vor höchst lesenswerten Buch „A World Restored“. Dort findet sich ein Metternich-Satz, der auch Kissingers Denken umreißt: „Die großen Axiome der Politikwissenschaft leiten sich aus der Anerkennung der wahren Interessen aller Staaten ab.“
Liest man, was der Jubilar dem „Economist“in acht InterviewStunden erklärte, finden sich diese frühen Gedanken wieder. So habe ihn Rücksicht auf die „wahren Interessen“Russlands dazu veranlasst, vor Putins Überfall auf die Ukraine dem Land einen Status der Neutralität nach dem Vorbild Finnlands vorzuschlagen. Die Ukraine sollte Brücke sein, kein Vorposten des Westens. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf ihm darauf Appeasement vor, also Einknicken vor einem übermächtigen Gegner, wie 1938 vor Hitlers Gebietsansprüchen.
Nach Kriegsbeginn und der Aufrüstung der Ukraine änderte Kissinger seine Meinung radikal. „Würde ich mit Putin sprechen, ich würde ihm sagen, dass es auch für ihn sicherer ist, wenn die Ukraine in der Nato ist“, erläuterte er seinen Schwenk. „Wir haben die Ukraine derart bewaffnet, dass sie das am besten gerüstete Land Europas ist und zugleich das strategisch unerfahrenste.“Daher sei Kontrolle durch die Nato nötig, glaubt Kissinger heute.
Für höchst gefährlich hält Kissinger die Spannungen mit China, dessen Öffnung zum Westen er einst angebahnt hatliest
te. Er vergleicht die Situation mit der Lage vor dem Ersten Weltkrieg. „Beide Seiten haben nicht viel Spielraum, jede Störung des Gleichgewichts kann katastrophale Konsequenzen haben.“Konkret schlägt er die Zusammenstellung einer kleinen Gruppe von Beratern auf beiden Seiten vor, die in permanentem Kontakt miteinander stehen. Alle halben Jahre sollten die Präsidenten der USA und Chinas einander treffen. Joe Biden rät er unumwunden, im Taiwan-Konflikt seine Rhetorik zu dämpfen. Ein Krieg um die Insel würde diese nicht retten, sondern verwüsten und zugleich die Weltwirtschaft schwer schädigen.
Dass Kissinger das kommunistische China milder betrachtet als einst die Sowjetunion, hat mit seiner Einschätzung der Kultur des Landes zu tun: „Meiner Meinung nach sind die Chinesen mehr Konfuzianer als Marxisten.“Auch habe das Land nie nach Weltherrschaft gestrebt und tue das bis heute nicht, glaubt er. China wolle respektiert und in die Entwicklung eines regelbasierten globalen Systems eingebunden werEin den. In seinem Buch „On China“leitet Kissinger das chinesische politische Denken aus den Regeln des Go-Spiels ab, westliche Strategien aus der Logik des Schachspiels. Ersteres ziele auf die Ausweitung der Einflusssphäre, Letzteres auf die Vernichtung des Gegners.
Die weltweite Anerkennung, die der „eldest statesman“Kissinger bis heute erfährt, kann nicht überdecken, was dem Sicherheitsberater und Außenminister gleichen Namens bis heute vorgehalten wird. Die Eskalation des Vietnamkriegs, das Bombardement des neutralen Nachbarlandes Kambodscha und die Unterstützung von Militärregierungen in Lateinamerika.
Dass Kissinger den Krieg in Vietnam letztlich beenden half, dass er zwischen Ägypten und Israel Frieden aushandelte, dass er Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion einleitete und in den Siebzigerjahren den Gesprächsfaden mit dem kommunistischen China wieder anknüpfte, steht auf der Habenseite des Politikers Kissinger. Aber für Schlussbilanzen ist es bei diesem Jubilar ohnehin noch zu früh.