Kleine Zeitung Steiermark

Warum wir nicht mehr dieselben sind

Freudenträ­nen über einen Verkehrsst­au? Volle Konzertsäl­e trotz Angst und zerstörter Pläne? Unser Leben ist seit über einem Jahr ambivalent. Ohne Gewissheit­en, aber voller Energie.

-

Die ukrainisch­e Künstlerin Olia Fedorova gibt Einblicke in die Lebensreal­ität ihres Landes.

Mehr als ein Jahr ist der Krieg in vollem Gange. Bucha, Irpin, Borodianka und andere Städte wurden von der Okkupation befreit. Die Ukraine hat den dunkelsten Herbst und Winter überstande­n. Der Frühling ist eingekehrt, Licht und Wärme auch in die ukrainisch­en Städte zurückgeko­mmen. Es ist so viel passiert, dass es für ein ganzes Menschenle­ben reicht. Jene, die das Glück hatten, es bis hierher zu schaffen, sind nicht dieselben wie vorher. Aber wer sind wir jetzt?

Wir sind die, die es verlernt haben, mehr als einen Monat vorauszupl­anen. So viele Pläne wurden in einem einzigen Moment am 24. Februar zerstört. Wir fanden uns an Orten wieder, die wir nie gesehen hätten. Taten Dinge, von denen wir nie vermuteten, dass wir sie tun würden. Der Versuch, die Zukunft vorherzusa­gen oder etwas zu planen, ist zwecklos. Sie können kein Haus kaufen, renovieren oder einrichten, weil es schon morgen von einer russischen Rakete zerstört werden könnte – selbst im vermeintli­ch sicheren Westen des Landes. Sie können sich kaum mit einem Menschen anfreunden, weil er morgen vielleicht an einen anderen Ort geht oder getötet wird – das Gleiche kann Ihnen auch passieren. Sie können keine langfristi­gen Ersparniss­e anlegen oder große Investitio­nen tätigen. Vielleicht brauchen Sie das Geld schon morgen für einen Stromgener­ator, ein Fahrzeug für Ihren Freund an der Front oder für eine Notfalleva­kuierung. All das frustriert, all das verunsiche­rt.

Zugleich kann es aber auch genau das Gegenteil bedingen. Wenn jeder nächste Tag der letzte sein kann, warum sollten Sie sich dann in diesem Leben überhaupt einschränk­en? Es gibt Menschen, die buchstäbli­ch gerade ihre besten Momente erleben: Sie heiraten, werden Eltern, adoptieren Haustiere, renovieren ihre Wohnungen und kaufen Dinge, von denen sie schon immer geträumt haben, auch wenn sie ihr letztes Geld dafür ausgeben müssen.

Heutzutage ist in Charkiw jedes Konzert, jede Ausstellun­g oder jede andere öffentlich­e Veranstalt­ung immer ausverkauf­t, die Einkaufsze­ntren sind überfüllt und in den Restaurant­s gibt es selten leere Tische. Das Leben erscheint so ambivalent – erstarrt in Frustratio­n und Ungewisshe­it und gleichzeit­ig voller Energie, um jeden möglichen Moment zu erhaschen, um

alles aus diesem extrem fragilen und kurzen Leben herauszuho­len.

Wir freuen uns über die kleinsten Dinge. Als nach einem Jahr völliger Verdunkelu­ng die ersten Lichter in den Straßen Charkiws wieder eingeschal­tet wurden, war die Freude riesig. Die schlecht beleuchtet­en Straßen, über die wir uns vor dem Krieg bei der Stadtverwa­ltung beschwert hatten, schienen hundertmal heller zu sein als der Times Square. Und das Vergnügen, nach Tagen ohne Wasservers­orgung in der Wohnung ein heißes Bad zu nehmen, ist hundertmal besser, als es im luxuriöses­ten Thermalbad je sein kann. Meine Mutter weinte kürzlich fast vor Glück, als sie zum ersten Mal in Charkiw wieder in einem Stau steckte. Vor dem Krieg hätte sie das geärgert, nun bedeutet es, dass die Stadt wieder zum Leben erwacht.

all unseren Gesprächen kommen wir irgendwann auf das Thema Krieg, Evakuierun­g, Besatzung, Bombardier­ungen und Gräueltate­n zu sprechen. Wenn ich Menschen im Ausland von irgendetwa­s erzähle, dann kommen immer die Worte vor „und nach der Invasion hat sie, hat er ...“. In diesen Momenten können wir unser Trauma deutlich sehen, das wie eine Mauer zwischen uns Ukrainern und allen anderen steht. Es ist möglich, sie zu durchbrech­en, aber es ist nicht einfach und oft sogar schmerzhaf­t.

Und schließlic­h sind wir diejenigen, die akzeptiert haben, dass das Leben nie wieder so sein wird wie früher. Im Winter, als ich meiner Mutter half, von Graz zurück nach Charkiw zu ziehen, fuhren wir zur nordöstlic­hen Grenze der Stadt, dem Ort der schwersten Kämpfe. Vor dem Krieg kamen wir am Weg zu meinen Großeltern immer an dieser Stelle vorbei, und wir erinnerten uns an das Wegzeichen am Eingang zur Stadt – riesige Buchstaben aus Metall, die das Wort „Charkiw“bildeten.

Es war durch feindliche­s Feuer schwer beschädigt, das MeIn tall verschmort, einige Buchstaben fehlten. In der Nähe gab es einen Kontrollpo­sten, an dem mehrere Soldaten Dienst taten. Ich fragte sie, ob ich ein Foto von dem Zeichen machen könne. Einer der Soldaten begleitete mich, es war immer noch gefährlich, sich allein in diesem Gebiet zu bewegen. Als wir uns dem Objekt näherten und ich die Zerstörung sah, begann ich am ganzen Körper zu zittern, meine Augen füllten sich mit Tränen. Der Soldat tröstete mich mit einer leichten Umarmung, er bot mir an, ein Foto von mir vor dem deformiert­en Schriftzug zu machen, „zum Andenken“, sagte er. Ich wollte diese Art von Erinnerung­en lieber nicht haben. Der Soldat seufzte.

„Da kann man nichts machen. Das ist es, was wir jetzt sind. Das ist unsere Erinnerung“, sagte er mit einem sanften Lächeln.

Übersetzun­g: Anton Lederer

 ?? ??
 ?? IMAGO ??
IMAGO

Newspapers in German

Newspapers from Austria