Wahl ohne Wähler im islamischen Gottesstaat
Die Iraner sollen ihr Parlament neu wählen – doch angesichts der tiefen Frustration mit dem Regime wollen viele zu Hause bleiben.
Im Iran finden heute Wahlen statt – und Revolutionsführer Ali Khamenei weiß, dass Millionen zu Hause bleiben wollen. Er flehte die Iraner geradezu an, trotz Unzufriedenheit mit dem Regime zur Urne zu gehen: Eine schlechte Wahlbeteiligung schade allen. Es riecht nach Furcht vor Erniedrigung: Umfragen sagen historisch niedrige Werte voraus, die Legitimation der Islamischen Republik könnte infrage gestellt werden.
60 Millionen Iraner und Iranerinnen sind aufgerufen, die 290 Sitze ihres Parlaments und den „Expertenrat“mit seinen 88 Mitgliedern neu zu bestimmen. Die Wahlen sind die ersten seit den Protesten gegen das Regime, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionspolizei 2022 entzündet hatten und niedergeschlagen wurden. Die Weigerung, Veränderungen zuzulassen, treibe viele Menschen in den Boykott, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin: „Die Leute wissen sehr genau, dass die Wahlen nichts an ihrem Schicksal ändern werden.“
Zur politischen Unzufriedenheit und restriktiven sozialen Vorschriften wie der Kopftuchpflicht für Frauen kommen Probleme wie Inflation, Währungsverfall und Umweltzerstörung. Das Regime hat die meisten Reformpolitiker von den Wahlen ausgeschlossen, deshalb stehen fast nur Hardliner zur Wahl. Reformer rufen zum Boykott auf, einige – wie Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi – aus dem Gefängnis heraus.
Die Beteiligung bei den Wahlen dürfte auf einen neuen historischen Tiefstand fallen. Bei der letzten Parlamentswahl 2020 gingen 42,6 Prozent der Iraner zur Urne – das war schon damals der schlechteste Wert seit der Revolution 1979. In einer Umfrage des staatsnahen Instituts Ispa im Dezember sagten knapp 28 Prozent der Teilnehmer, sie wollten zur Wahl gehen.
Warum das so ist, weiß das Regime aus internen Untersuchungen. Eine dieser Studien, die dem persischen Dienst der britischen BBC zugespielt wurde, zeigt die tiefe Kluft zwischen
der Mullah-Regierung und dem Volk. Mehr als 70 Prozent der Iraner wünschen sich demnach eine Trennung von Politik und Religion und lehnen die Herrschaft der Geistlichkeit ab, eine Säule der Islamischen Republik.
Die Macht des Regimes ist dadurch nicht in unmittelbarer Gefahr, denn es kann sich auf die Revolutionsgarde, die Polizei und regierungstreue Milizionäre verlassen. Ein Problem ist die Desillusionierung der Iraner für Revolutionsführer Khamenei und Präsident Ebrahim Raisi trotzdem: Ihr Staat brüstete sich, die damals hohen Wahlbeteiligungen von zeitweise mehr als 80 Prozent seien ein Beweis für die Zustimmung des Volkes zur Islamischen Republik, die als Antwort auf die Schah-Diktatur errichtet wurde.
Das Regime hatte gehofft, die Wahlen könnten einen Schlussstrich unter die Protestwelle ziehen. Eine hohe Beteiligung wäre aus Sicht des Regimes auch ein Signal an die USA, Israel und andere außenpolitische Gegner, denn mit ihr könnte die Islamische Republik demonstrieren, dass das Volk hinter ihr steht. Eine niedrige Wahlbeteiligung würde diese Hoffnungen zunichtemachen – zu einer Zeit, in der sich die Führung des Landes auf die Nachfolge des fast 85jährigen Khamenei vorbereitet: Die Mitglieder des Expertenrates dürften bis 2032 einen neuen Revolutionsführer wählen.
Regimevertreter behaupten, die Stimmabgabe sei religiöse Pflicht, während ein Wahl-Boykott nur Feinden des Landes nützen würde. Die Opposition befürchtet, dass die Führung es nicht bei Appellen belässt: Die Regierung wolle mehrfache Stimmabgaben ihrer Anhänger zulassen und eine hohe Beteiligung vortäuschen, meldet der regimekritische Exilsender Iran International. Tricks würden dem Regime nicht helfen, meint Iran-Experte Keskin. Manche Wähler würden nicht die Wahl, sondern den Boykott als Pflicht betrachten: „Sie sehen die Zeit gekommen, dem Regime einen Denkzettel zu verpassen.“