Gefühle sammeln
Seit Dienstag haben wir also einen neuen Bundeskanzler. Und der fiel schon bei seinem ersten Auftritt durch geschliffene Sprache und sorgfältige Wortwahl auf.
Kurz nach der Angelobung wollten die wartenden Journalisten vom neuen Bundeskanzler wissen, wie er sich in diesem besonderen Moment fühle. Wir kennen das ja von Sportler-Interviews, kaum bekommen sie wieder Luft, sollen sie tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt zulassen, Lebensweisheiten formulieren und präzise Analysen treffen. Wie war die Fahrt? Wie fühlen Sie sich? Was soll man schon sagen in solchen Momenten, in denen Worte oft gar nicht ausreichen, um zu beschreiben, was man gerade erlebt.
Wie fühlen Sie sich also, so kurz nach Ihrer Angelobung zum Bundeskanzler? Ein großer Moment, feierlich, bewegend, ab jetzt wird das Leben ein ganz anderes sein . . .
„Mir schlottern die Knie. Ich habe Gänsehaut. Ich bin überwältigt vom Augenblick und der bevorstehenden Aufgabe.“All das hätte Christian Kern sagen können, und vielleicht fühlte er in diesen Minuten ja auch eine Mischung daraus. Tat er aber nicht. Er antwortete mit einem schlichten: „Ich sammle meine Gefühle!“. Punkt. Sonst nichts.
Gefühle sammeln, bevor man sich ihnen hingibt. Gedanken ordnen, bevor man sie ausspuckt. Innehalten. Durchatmen. Und dann erst weitergehen. Wie gut das tut. Vielleicht ist das sogar eine wichtigere, weitreichendere Tugend als so manch politische Entscheidung!