Ich will vergessen sein Ist die Kunst des Sterbens erlernbar?
Schriftsteller Robert Schneider denkt nicht an den Tod, weiß nicht, ob er Angst vorm Sterben hat, und sagt: Von Robert Schneider soll nichts bleiben.
Selten mache ich mir Gedanken über meine Endlichkeit, mein Sterben, meinen Tod. Ich gebe zu, ich denke gar nicht darüber nach. Ich wüsste keine Antwort auf die Frage, ob ich Angst vor dem Sterben habe. Ich weiß es einfach nicht.
Ich weiß nicht, wie Robert Schneider in der Stunde seines Todes reagieren wird. Darüber nachzudenken ist müßig, ist Anmaßung. Nicht weil ich die Frage verdränge, sondern weil der Gedanke an sich Zeitverschwendung ist. Er führt lediglich von einer Hypothese zur anderen.
Ich habe kein Gefühl für meine Endlichkeit. Das hängt damit zusammen, ich unendlich Zeit habe in meinem Leben. Längst habe ich begriffen, dass der sogenannte Zeitdruck ein Phänomen der gegenseitigen Unterjochung ist.
In Wahrheit ist das Gefühl für Zeit dem Menschen wesensfremd. An Kindern können wir das noch beobachten, wenn sie selbstvergessen spielen. Zeit wird erst dann zur schmerzli- chen Erfahrung, wenn ich eben nicht selbstvergessen bin, also nicht im Jetzt, sondern im Morgen, beim nächsten Termin, der höchst fälligen Erledigung. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang. Ich hole dich bei Sonnenaufgang ab.
So müsste Europa denken. Dann würde es auch funktionieren. Und es hätte keine Angst mehr vor dem Tod. Denn wer Angst vor dem
Tod hat, hat in Wirklichdass
keit Angst vor dem Leben, vor dem angeblich nicht Erledigten, dem Versäumten, dem nicht Gelebten, dem Unversöhnten. Das meint Rainer Maria Rilke in seiner 1. Duineser Elegie: „Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn.“
Dass unsere Gesellschaft den Tod verdrängt, ist ein Klischee, das nicht stimmt. Das Sterben ist allüberall.
Sie können es sich ansehen. Gehen Sie auf eine Palliativstation, schlagen Sie die Zeitung auf. Auf YouTube finden Sie Menschen in der Sekunde ihres Todes. Und dennoch werden Sie nichts über sich selbst erfahren, keine Ahnung davon erhalten, wie es ist, selbst zu sterben, wie sich das anfühlt.
Alle Zeugnisse von Nahtododer Transzendenzerfahrungen sind hilflos erzählte Geschichtchen von Engeln, Lichterscheinungen und dergleichen mehr.
Ich weise Nahtoderfahrungen nicht von der Hand, aber sie bleiben rein subjektiv. Wer damit etwas anfangen kann – bitte. Wem es hilft, die Kunst des Sterbens zu erlernen – sehr gut.
Wer zu leben versteht, versteht zu sterben
Die „ars moriendi“war im Spätmittelalter Bezeichnung für Erbauungsliteratur, welche die Einübung auf ein gutes Sterben lehrte. Interes- santerweise war der Begriff eng mit der „ars vivendi“, der Kunst zu leben, verknüpft.
Beides gehörte untrennbar zusammen. Wer zu leben verstand, verstand auch zu sterben. Wer im Leben sich selbst versäumte, konnte nicht sterben, lange nicht. Wessen Leben aus „Ach, hätte ich bloß . . .“bestanden hat, der fand keine Erlösung im Tod. Der geht heute noch um, zumindest das von ihm, was man Seele nennt: arme Seele. Allerseelen. Vergangenen Sommer war ich auf einem Begräbnis. Ein Begräbnis auf dem Dorf. Eine Erdbestattung. Das Bestattungsunternehmen hat vermutlich kein großes Geschäft mit dieser „Leich“gemacht, weil die Angehörigen es strikt untersagt haben, die Zeremonie zu behübschen – sprich: Die aufgeworfene Erde wurde nicht mit grünem Plastikrasen abgedeckt, keine Kränze, die den Sarg verdeckten. Kein Firlefanz. Die Grube stand gähnend weit offen. Die Angehörigen selbst schaufelten das Grab zu. Eine wunderbare Feier war das. Und eine großartige Einschulung in das Vergessenwerden.
Im Karthäuserorden war es Brauch, weder Grabstein noch Grabkreuz auf das Grab zu pflanzen. Das Gras wuchs, der Wind wehte darüber. Vergessen.
Ich habe mich, das ist genug
Ich will vergessen sein. Von Robert Schneider soll nichts bleiben. Ich weiß, was ich da schreibe. Ich kenne meine Sätze und ihre Konsequenz. Mir ist ernst. Ist es nicht tröstlich, ja sogar befreiend, endlich vergessen zu sein, nicht länger den Projektionen und Mutmaßungen anderer ausgesetzt? Was für eine Freiheit! Noch einmal Rainer Maria Rilke, dieser große Schauende: „Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, dieses zu leisten.“Bei Sonnenuntergang warte ich auf dich. Im Morgengrauen hole ich dich ab. Kommst du nicht, kommst du vielleicht morgen. Es ist aber auch gut, wenn du nicht kommst. Ich habe mich. Das ist genug.