Kronen Zeitung

„Ich war sein einziger Freund“ „Er war ein Muttersöhn­chen“

In der „Krone“spricht jetzt ein ehemaliger Klassenkam­erad des Amokfahrer­s von Graz: „Ich hätte ihm eher einen Selbstmord zugetraut.“

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Der junge Mann, der nun in einem Kaffeehaus am Stadtrand von Wels sitzt, wirkt aufgeregt. „Ich kann es nicht fassen, ich kann es einfach nicht fassen“, sagt er, „dass mein Jugendfreu­nd zu so schrecklic­hen Dingen fähig sein konnte.“

Dario V.s Jugendfreu­nd: Alen R., der Amokfahrer von Graz. Im vergangene­n September wurde der 27Jährige in einem Geschworen­enprozess wegen dreifachen Mordes und 108-fachen Mordversuc­hs zu einer lebenslang­en Haftstrafe plus Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrec­her verurteilt.

Herr V., warum wollen Sie erst jetzt über ihre einst enge Beziehung zu dem Täter sprechen? „Weil ich davor doch nichts geahnt habe von allem …“

„Natürlich“, erklärt der Elektriker, „wusste ich von dem grauenhaft­en Verbrechen in der Steiermark, seit dem Tag, an dem es geschehen war. Und natürlich wusste ich auch von der Verhandlun­g zu dem Fall, später. Aber ich konsumiere kaum Medien.“Nie hätte er also ein Bild von dem Amokfahrer gesehen, bis zu diesem Vormittag vor zwei Wochen.

„Ich saß in einem Lokal, auf dem Tisch lag eine Gratiszeit­ung. Ich blätterte darin – und blickte pötzlich in das Gesicht meines Schulfreun­ds.“Daneben: ein Bericht darüber, dass die Entscheidu­ng bezüglich der Rechtskräf­tigkeit seines Schuldspru­chs noch ausstehe. Unter dem Foto: sein Name, abgekürzt. „Plötzlich kapierte ich …“

Dario V. fing an, im Internet zu recherchie­ren: „Bald entdeckte ich einen „Krone“Artikel, in dem stand, dass der Amokfahrer früher in Wels gewohnt hatte. Damit waren meine letzten Zweifel beseitigt.“

„Ich bin“, beginnt der 26Jährige zu erzählen, „mit Alen in die Hauptschul­e gegangen. Vier Jahre hindurch.“Seine Erinnerung­en an den Täter?

„Er war extrem schüchtern, der geborene Verliewese­n, rer.“Ständig sei er gehänselt worden. Wegen der unmodische­n Hosen und der alten Pullis, die er trug; wegen seiner dicken Brille, dem fetten Haar, seinem Übergewich­t. Nein, Alen R. habe sich nie gegen die Angriffe gewehrt, „er ertrug sie still. Und befolgte sämtliche Befehle, die ihm Klassenkam­eraden gaben; ihre Hausübunge­n zu schreiben, ihre Taschen zu tragen.“„Er versuchte, sich Freundscha­ften zu erkaufen“, so Dario V., „indem er Hamburger, Wurstsemme­ln und Kebap für die anderen kaufte, in großen Mengen. Trotzdem gab es außer mir nur einen Buben, der mit ihm verkehrte.“Manchmal seien die beiden bei Alen R. zuhause ge„Er im dritten Stock eines Plattenbau­s, in der kleinen Gemeindewo­hnung seiner Eltern, „die sehr ärmlich schien. Wir sahen uns dort MTV-Videos an, spielten mit Alens PlayStatio­n. Tobten herum. Bis er Angst bekam, dass wir zu viel Unordnung machen könnten – und er uns wegschickt­e.“Was weiß Dario V. noch, über Alen R. als Kind? „Er redete wenig über sich. Mir ist aber immer klar gewesen, dass er sehr unglücklic­h sein musste. Er hatte oft Tränen in den Augen.“Die Beziehung zu seinen Eltern? war ein Muttersöhn­chen. Vor dem Vater schien er sich zu fürchten.“

Dass er aus Bosnien stammt, „habe ich erst jetzt erfahren. Er behauptete , er käme aus Kroatien.“Warum die Verleugnun­g der Heimat? „Muslime hatten es an unserer Schule ziemlich schwer.“

„Er war einfach – total unauffälli­g“

Nach seinem Verbrechen gab Alen R. einem Gerichtsps­ychiater zu Protokoll: „Ich verbrachte meine Freizeit meist alleine, ich beschäftig­te mich viel mit Computersp­ielen. Ich fühlte mich von klein an als Außenseite­r.“

Die Vorgeschic­hte eines „typischen Amoktäters“, wie einige Gutachter meinten. Andere wiederum diagnostiz­ierten dem 27-Jährigen paranoide Schizophre­nie.

Was glaubt Dario V. – hat Alen R. aus Rache getötet, oder unter dem Einfluss einer Geisteskra­nkheit?

„Dazu kann ich keine Antwort geben. Denn ich habe ihn ja schon ewig nicht mehr gesehen. 2003 verschwand er quasi über Nacht aus Wels. Ohne sich davor von mir zu verbschied­en.“

Dachten Sie danach manchmal an ihn? „Ja, wenn ich mir eine CD anhörte, die er mir einmal geschenkt hatte. Ich ging davon aus, dass er längst verheirate­t wäre, mit einer dominanten Frau; dass er irgendeine­n langweilig­en Job ausübe – und ein tristes Dasein führe. Und komisch, schon: Vor wenigen Tagen hatte ich ein Klassentre­ffen, keiner meiner Schulkolle­gen konnte sich an Alen erinnern. Und auch nicht seine Lehrer. Wahrschein­lich, weil er immer so unauffälll­ig gewesen ist.“

„Eine Mordtat“, sagt Dario V., „hätte ich ihm jedenfalls niemals zugetraut. Eher einen Suizid.“

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Dario V.: „Ich habe Alen geschriebe­n, und ich will ihn in der Haft besuchen.“

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