Kronen Zeitung

Von der Horrorschu­le zum Bildungs-Vorbild

„Krone“-Lokalaugen­schein in der ehemals schlimmste­n Schule Deutschlan­ds Warum unser Nachbarlan­d bei der PISA-Studie deutlich vor Österreich liegt Blockade: Hierzuland­e weiter Streit um das bereits fertige Autonomiep­aket

- VON DORIS VETTERMANN

„Man fühlt sich hier nicht fremd“, sagt Aya und lacht. Die 14-Jährige aus Ägypten lebt seit drei Jahren in Berlin, sie spricht perfekt Deutsch, trägt ihr Kopftuch mit einer lockeren Selbstvers­tändlichke­it und will später einmal in die Politik. Schulsprec­herin ist sie schon.

Und zwar an der ehemals schlimmste­n Schule Deutschlan­ds. Der berüchtigt­en Rütli-Schule im ebenso berüchtigt­en Problem-Bezirk Neukölln mit einem sehr hohen Migrantena­nteil und sozial schwachen Familien.

Vor zehn Jahren war an der Rütli-Schule der Unterricht die tägliche Hölle, Gewaltexze­sse waren an der Tagesordnu­ng, Lehrer fürchteten sich vor dem Gang in die Klasse. Die Pädagogen setzten schließlic­h einen dramatisch­en Hilferuf in Form eines offenen Briefs ab: Sie berichtete­n von eingetrete­nen Türen, von Knallkörpe­rn, davon, dass die Schüler auf negative Schlagzeil­en aus waren, weil sie so im Kiez gut dastehen würden. Der Brandbrief handelte von Attacken gegen die Lehrer, von der Ratlosigke­it, davon, am Ende der Kräfte zu sein. Rütli – ein Symbol der gescheiter­ten Integratio­n.

Kompletter Neustart statt Schließung

Es stellte sich die Frage: Die Schule schließen oder einen Neustart wagen? Die Verantwort­lichen in Neukölln entschiede­n sich für einen Neuanfang, einen völlig anderen Weg. In einem wahren Kraftakt gelang es, aus der einstigen Horrorschu­le ein Vorzeige-Projekt zu machen.

Zuerst wurde die Hauptschul­e, in die alle schwierige­n Kinder abgeschobe­n wurden, aufgelöst und eine Gemeinscha­ftsschule eingericht­et. Und ein ganztägige­r Unterricht eingeführt – um die Kinder länger in der geschützte­n Umgebung der Schule zu behalten. Kein Kind wurde mehr aufgegeben, keines abgeschobe­n. „Wir sehen die Mutterspra­che unserer Schüler als Ressource, da lernen sie besser“, sagt die heutige Direktorin Cordula Heckmann, zu deren Team auch Erzieher, Sozialarbe­iter und Sonderpäda­gogen gehören. Jeder Lehrer hat zwei Stunden pro Woche in seiner Klasse, die er ohne Lehrplan gestalten kann – etwa Probleme besprechen oder auf Tests vorbereite­n. Ebenfalls einmal in der Woche tagt der Klassenrat mit den Sozialpäda­gogen.

Das Ergebnis der jahrelange­n Anstrengun­gen: Die einstige Problemsch­ule hat mehr Anmeldunge­n als Direktorin Heckmann annehmen kann. Auch immer mehr Deutsche strömen an den Rütli-Campus. „In den unteren Klassen haben wir bereits etwa 60 Prozent Schüler ohne Migrations­hintergrun­d“, sagt Heckmann, die sichtlich stolz auf ihre Vorbild-Rolle ist.

Nach dem PISA-Schock: Reformen umgesetzt

Das Beispiel Rütli-Schule zeigt, dass vieles möglich ist, wenn man nur will. Und zwar innerhalb weniger Jahre. Generell ist Deutschlan­d, was den Mut zu Reformen und auch deren Umsetzung betrifft, Österreich weit voraus. Im Jahr 2000 erlebte Deutschlan­d einen PISA-Schock. Die Ergebnisse waren erschrecke­nd, die Noten verheerend. Doch es wurde gehandelt – heute liegen unsere Nachbarn bei PISA deutlich vor uns.

In Berlin sind mittlerwei­le alle Grundschul­en ganztägig, Hauptschul­en gibt es gar nicht mehr, Direktoren können sich ihre Lehrer selbst aussuchen. Ein spezielles Programm fördert Schulen in sozialen Brennpunkt­en: Mit 100.000 Euro pro Jahr – dafür muss etwa die Zahl der Schulabbre­cher reduziert werden.

Wille zur Veränderun­g statt ständiges Nein

Ohne Widerstand gingen und gehen die Reformen natürlich auch in Deutschlan­d nicht über die Bühne. Doch im Unterschie­d zu Österreich zieht die Koalition an einem Strang, wie die Berliner Bildungsse­natorin Sandra Scheeres betont.

Trotz des neuerliche­n PISA-Debakels verzögert sich in Österreich die große Bildungsre­form weiter. Das Autonomiep­aket, eigentlich schon fertig ausgearbei­tet, wird von den Ländern torpediert. Unterricht­sministeri­n Sonja Hammerschm­id (SPÖ) gibt sich kämpferisc­h und rechnet mit einer Einigung Anfang 2017.

Mir braucht niemand mehr zu sagen, dass irgendetwa­s schon wieder nicht geht. Ich habe hier gesehen, was alles möglich ist.

Bildungsmi­nisterin Sonja Hammerschm­id Eine bunte Schülersch­aft braucht auch eine bunte Lehrerscha­ft. Die Pädagogen sind auch interkultu­relle Moderatore­n. Cordula Heckmann, Direktorin der Gemeinscha­ftsschule Campus Rütli in Berlin

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Vor zehn Jahren war der Alltag an der Rütli-Schule der reinste Horror. In einem dramatisch­en Hilferuf wandten sich die verzweifel­ten Lehrer an die Öffentlich­keit (siehe Faksimile oben und rechts).
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Bildungsmi­nisterin Hammerschm­id in der Rütli-Schule

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