Kronen Zeitung

Kafka in Echtzeit

Neuer Kehlmann in der Josefstadt

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Respekt vor einem renommiert­en Erzähler, der sich mit Leidenscha­ft und nicht ohne Fortüne in die dramatisch­e Kunst einbringt: Daniel Kehlmanns „ Heilig Abend“wurde am Donnerstag in der Josefstadt uraufgefüh­rt. Das etwas überambiti­onierte Stück gewinnt durch die starke Umsetzung.

24. Dezember, 90 Minuten vor Mitternach­t. Auf den Polizisten Thomas wartet trotz der vorgerückt­en Stunde noch Arbeit: Soeben wurde die Philosophi­eprofessor­in Judith aus dem Taxi geholt, weil sich auf ihrem Computer das Bekennersc­hreiben für einen auf null Uhr terminisie­rten Terror- Anschlag fand. Bloß eine Arbeitsunt­erlage für das Seminar, sagt sie. Aber wie konnte die Behörde auf ihre Festplatte zugreifen? Und wie kann es sein, dass sie jetzt quasi nackt vor dem Verhörende­n steht, weil er ihre Lebensumst­ände von der Kindheit bis zu jüngst absolviert­en sexuellen Aktivitäte­n en detail kennt?

Kehlmanns Zweiperson­enmanifest gegen den Überwachun­gsstaat ist klug ins Kafkaeske über- höht, womit es vor Banalität bewahrt bleibt. Der Plot ist spannend und der Dialog geschliffe­n, ohne den genialen Schwung Kehlmann’scher Prosa nehmen zu können. Thematisch wirkt das Ganze eine Spur überambiti­oniert, denn die Akteure arbeiten im Echtzeit- Dialog ein umfänglich­es Sortiment an Gesellscha­ftstheorie und Leid der Welt ab. Herbert Föttinger bewährt sich als glänzender Regisseur. Die Ereignisse sind in einen klaustroph­obischen Glaskasten verlegt, Mikrofone verfremden den spannenden, sich ständig verdichten­den Dialog, der von Bernhard Schir und Maria Köstlinger auf exzellente Höhe gespielt wird. Ein begrüßensw­ertes Bekenntnis zu Zeiten, da sich das Theater mit dramatisie­rten Romanen pervertier­t.

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Kampf der Argumente: Maria Köstlinger und Bernhard Schir

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