Gedanken zu Allerheiligen
Vor einem Jahr, ebenfalls knapp vor Allerheiligen, stand ich vor dieser alten grauen Friedhofsmauer, hörte das Poltern der Erdschollen auf dem Deckel des Sarges meiner Frau Edith und meinte, dieser unsagbare Schmerz in meiner Brust würde mich erdrücken.
Acht Monate später hatte ich dem Drängen meiner Kinder nachgegeben und war einige Tage ins Zillertal gefahren. An einem strahlend schönen Morgen fuhr ich zum Schlegeisstausee und wanderte, wie zwei Jahre vorher mit Edith, Richtung Talschluss.
Einen kurzen Blick warf ich hinüber zur Gedächtnisstätte für die Arbeitsopfer dieses gigantischen Bauwerks. Ein Stück nach dem Ende des Sees kam ich zu einer Stelle, die auf mich wie die Tür in eine andere Welt wirkte. Knapp dahinter querte keine fünf Meter vor mir ein Murmeltier den Weg, wohl ebenso erschrocken wie ich.
Im Kar setzte ich mich auf einen Stein und betrachtete diesen wunderbaren Teil der Schöpfung.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre Edith ganz nahe bei mir. Ich schloss die Augen und sah sie, die Hand nach mir ausstreckend. Jedoch nicht fordernd, etwa „ komm“. Es war eine mehr als 62 Jahre alte Geste zwischen uns beiden. Ebenso rasch, wie es gekommen, war das Bild wieder verschwunden.
Ich begann nachzudenken, welch undankbarer Mensch ich im Grunde sei. Undankbar gegen den, der uns vor mehr als sechs Jahrzehnten unter Milliarden Menschen auswählte, zusammenführte und uns darüber hinaus ein Geschenk auf den Weg mitgab, welches beileibe nicht jedem vergönnt ist.
Ein langes Leben in seltener Eintracht, mit wunderbaren Kindern und Enkeln samt deren Partnern und sechs entzückenden Urenkeln.
Auf dem Rückweg holte ich bei der Gedächtnisstätte mei- nen so lange verabsäumten Dank nach und gedachte jener, denen in Ausübung ihrer Pflichterfüllung das alles verwehrt geblieben war.
Danach fühlte ich mich irgendwie erleichtert und begann wieder mehr Freude am Leben zu haben. Karl Radelsbeck, Kirchberg