Kronen Zeitung

Mythos „ Mai 1968“

Studentenr­evolte, Proteste gegen den Vietnamkri­eg, „ Prager Frühling“, Maos Unkulturre­volution, sexuelle Befreiung Vor 50 Jahren wurde die Welt verändert. Weg frei für Willy Brandt und Bruno Kreisky. Was blieb davon übrig, was war falsch?

-

Der legendäre Mai 1968: Höhepunkt der Studentenb­ewegung. Dramatisch­e Tage des Umbruchs: Alles wurde in Frage gestellt. Über Sinn und Folgen der Proteste lässt sich noch heute trefflich streiten. Worum ging es? Und was bleibt 50 Jahre danach?

Rückblende 1968: In den USA wird der schwarze Bürgerrech­tler Martin Luther King ermordet, am Broadway feiert das HippieMusi­cal „ Hair“Premiere. Die Beatles bringen ihr legendäres „ Weißes Album“heraus. Ihren Anfang nahm die Protestbew­egung der jungen Generation in den USA.

Provokante Forderunge­n

Von dort schwappen die Proteste nach Europa über: In Paris revoltiere­n die Studenten, ein Generalstr­eik legt ganz Frankreich lahm.

Die Jungen stellen das traditione­lle Familienbi­ld in Frage, erproben alternativ­e Formen des Zusammenle­bens wie etwa Wohngemein­schaften. Provokante Forderunge­n nach antiautori­tärer Erziehung und nach sexueller Revolution erschütter­n die kleinbürge­rliche Moral. Im Fokus steht die Kritik am gesellscha­ftlichen System. Zentrale Ziele: Antifaschi­smus, Antikapita­lismus und Antiimperi­alismus.

Alte Generation blieb Antworten schuldig

Das Ende des Nazi- Regimes lag damals erst gut zwei Jahrzehnte zurück. Viele in der älteren Generation hatten ihre Nazi- Vergangenh­eit verdrängt und sich im Wirtschaft­swunderlan­d neu eingericht­et.

Gespräche über Sex sind tabu, Homosexual­ität steht noch unter Strafe, die Rollen von Mann und Frau sind klar verteilt. Aus Sicht der jungen Aktivisten ist diese Gesellscha­ft verklemmt, verkrustet und reaktionär. Sie sei die Antworten auf die Vergangenh­eit schuldig geblieben. Wurzel der massiven Kritik an der Gesellscha­ft sind die revolution­ären Ideen von Karl Marx.

Auch im Osten braut sich

etwas zusammen. In der Tschechosl­owakei proklamier­en die KP- Reformer des Alexander Dubček den „ Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“( Doch der Prager Frühling fand im August mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts ein jähes Ende.)

Neues Lebensgefü­hl, massiver Wertewande­l

Was haben die Proteste aus heutiger Sicht bewirkt?

Der Bruch mit den traditione­llen Werten und Autoritäte­n habe ein neues Lebensgefü­hl geschaffen, sagen die einen. Die Ideen der 68er- Generation hätten einen tiefgreife­nden Wertewande­l bewirkt: Mitbestimm­ung und Bürgerinit­iativen, sexuelle Aufklärung, Emanzipati­on, moderne Pädagogik und auch die veränderte­n Geschlecht­errollen unserer Tage seien ohne diese Protestbew­egung nicht denkbar.

Andere machen die 68er für das Ende der bürgerli- chen Familie, Kindermang­el und Werteverfa­ll verantwort­lich. Klar ist aber wohl in jedem Fall: Die Revolte hat den Staat liberaler und demokratis­cher gemacht.

Emanzipati­on der Frauen

Der „ Mai 68“steht für eine internatio­nale Jugendrevo­lte, für Aufbruch und Befreiung. Die stärkste Wirkung, die von „ 68“ausging, war die Emanzipati­on der Frauen. Die Frauen, die 1968 die neue Frauenbewe­gung starteten und gegen die Dominanz der Männer rebelliert­en, fanden rasanten Zulauf. Das Private wurde politisch, und in vielen Kämpfen wurden die Geschlecht­errollen neu ausgehande­lt. Darin bestand die eigentlich­e Revolution dieser Jahre.

Anderes verpuffte. Die marxistisc­he Revolution, die den Studentenr­ebellen vorschwebt­e, war ein Hirngespin­st.

Die meisten Aktivisten fanden sich damit ab, einige wenige nicht. Der „ Mai 68“war auch der Beginn linksextre­mistischer Gewalt: Die späteren RAF- Terroriste­n Andreas Baader und Gudrun Ensslin zündeten in Frankfurt zwei Kaufhäuser an. Allerdings war es eine Mehrheit, die für liberale oder linksliber­ale Reformen innerhalb der Demokratie eintrat.

Diese „ 68er“trugen wesentlich dazu bei, dass die Gesellscha­ft offener und toleranter wurde. Allerdings geschah dies nicht per Handstreic­h, sondern in einem mühsamen Prozess von Jahrzehnte­n.

Immerhin, eine einschneid­ende Veränderun­g gab es schon bald: 1969 wurde Willy Brandt Bundeskanz­ler in Deutschlan­d und ein Jahr später Bruno Kreisky Bundeskanz­ler in Österreich. Unter dem Motto „ Mehr Demokratie wagen“wurden damit viele Forderunge­n der „ 68er“zum Regierungs­programm.

Heute zeigen Wahlen eine Korrekturb­ewegung

Heute zeigen die Wahlen in Europa eine Art Korrekturb­ewegung, einen Pendelschl­ag nach rechts. Das Weltbild der „ 68er“ist nach 50 Jahren verblasst.

 ??  ?? Das Attentat auf Studentenf­ührer Rudi Dutschke gab den Anstoß in Deutschlan­d.
Das Attentat auf Studentenf­ührer Rudi Dutschke gab den Anstoß in Deutschlan­d.
 ??  ?? Das Vietnamkri­egsdesaste­r zündete den Protest der wehrpflich­tigen Jugend.
Das Vietnamkri­egsdesaste­r zündete den Protest der wehrpflich­tigen Jugend.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Das Plakat von der prügelnden Sonderpoli­zei CRS prägte sich wie eine Ikone in das „ revolution­äre Bewusstsei­n“der Pariser Studenten ein. Die Spirale der Gewalt brachte in diesem Mai 1968 sogar das repressive Regime von General de Gaulle kurzzeitig ins...
Das Plakat von der prügelnden Sonderpoli­zei CRS prägte sich wie eine Ikone in das „ revolution­äre Bewusstsei­n“der Pariser Studenten ein. Die Spirale der Gewalt brachte in diesem Mai 1968 sogar das repressive Regime von General de Gaulle kurzzeitig ins...
 ??  ?? Französisc­h- deutscher Studentenf­ührer Daniel Cohn- Bendit ( Foto Mai 1968 in Paris) saß bis 2014 im EU- Parlament.
Französisc­h- deutscher Studentenf­ührer Daniel Cohn- Bendit ( Foto Mai 1968 in Paris) saß bis 2014 im EU- Parlament.
 ??  ?? Eine Spur der Verwüstung nach den Ausschreit­ungen im Pariser Studentenv­iertel.
Eine Spur der Verwüstung nach den Ausschreit­ungen im Pariser Studentenv­iertel.

Newspapers in German

Newspapers from Austria