Virtuelle Anthropologie
Mödlinger Forscher lässt alle bisherigen Theorien über die Evolution durcheinanderpurzeln
Mit der Computerrevolution der 1990er- Jahre kam frischer Wind in die Anthropologie. Man konnte plötzlich die Gestalt von Fossilien so genau vermessen wie nie zuvor.
Prof. Dr. Gerhard Weber
Die meisten Dinge verlaufen nicht so geradlinig, wie man glauben möchte. Das gilt für den eigenen Werdegang und erst recht für die menschliche Evolution.
Die neuesten Forschungsergebnisse von Prof. Gerhard Weber, Anthropologe und Leiter des Mikro- Computertomographie- Labors an der Universität Wien, zeigen, dass die ersten modernen Menschen schon vor rund 200.000 Jahren Afrika verlassen haben. Bisher nahm man an, dass dies erst vor 100.000 Jahren geschah. „ Damit purzeln alle bisherigen Theorien über die Entstehung unserer eigenen Art durcheinander, weil nun viel kompliziertere Szenarien wahrscheinlich geworden sind, die auch Vermischungen mit früheren Menschenarten aus Europa und Asien denkbar machen“, so Prof. Weber. Dieser Befund war nicht der erste sensationelle aus seinem Labor. Vor drei Jahren konnten er und seine Mitarbeiter zeigen, wie ähnlich sich moderne Menschen in der Levante und in Europa schon vor zigtausend Jahren waren, und 2011 publizierte das Team Daten über die ersten Ankömmlinge in Europa ( in diesem Fall Süditalien).
„ Mit der Computerrevolution der 1990er- Jahre kam frischer Wind in die Anthropologie. Man konnte plötzlich die Gestalt von Fossilien so genau vermessen wie nie zuvor“, so Weber. Er und seine Kollegen wurden vom Fonds zur wissenschaftlichen Forschung ( FWF) und dem Wissenschaftsministerium gefördert und entwickelten so auf Basis der raschen Zunahme der Leistungsfähigkeit von Speicherchips und Prozessoren neue Methoden zur Analyse.
Im anschließend größten Anthropologieprojekt Europas, das von der EU finanziert wurde, verbreiteten sie die neue Technologie, die heute in der ganzen Welt unter dem Begriff „ Virtuelle Anthropologie“bekannt ist. Diese lässt sich auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel in der Medizin, anwenden. Im Moment arbeitet Weber mit Unterstützung des Landes Niederösterreich und des Naturhistorischen Museums Wien an der berühmten Venus von Willendorf, um herauszufinden, woher sie eigentlich stammt. Der Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank ( ÖNB) wiederum finanzierte ein Projekt zur Untersuchung kostbarer StradivariGeigen, die zusammen mit dem Kunsthistorischen Museum Wien mit denselben Methoden untersucht wurden.