„ Die nächsten sechs Monate entscheiden“
Der Italiener Antonio Tajani ist seit Jänner 2017 Präsident des Europäischen Parlaments. Im Interview mit der „ Krone“legte er dar, was er sich von Österreichs drittem EU- Ratsvorsitz ab 1. Juli erwartet
Der Terminplan des EU- Parlamentspräsidenten ist in diesen Tagen dicht gedrängt. Antonio Tajani nahm sich dennoch für die „ Krone“Zeit.
Brexit, Budgetverhandlungen, Asylkrise – das alles fällt nun unter die Regie von Österreich. Welche Erwartungen haben Sie an den österreichischen Ratsvorsitz?
Es wird eine SchlüsselPräsidentschaft für Europa. Das wichtigste Thema wird die Migration sein. Wir müssen gute Lösungen gegen illegale Migration und einen konsequenten Schutz der Außengrenzen finden. Wir werden dafür eine Strategie für Afrika brauchen. Wir erwarten 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Afrika in den nächsten Jahren. Wegen des Klimawandels, Terrorismus in ihrem Land oder Armut. Das wird viel Arbeit. Die nächsten sechs Monate werden entscheidend für Europa.
Deutschland hat gerade aufgrund der Asylkrise innenpolitisch zu kämpfen. Man droht, Tausende Flüchtlinge nach Österreich zurückzuschicken. Hat das DublinAbkommen bereits versagt?
Wir haben überall Probleme. Meine Sicht der Dinge ist: Der Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Reform des Dublin- Abkommens, also eine Neuordnung der Asylpolitik, ist ein guter Ausgangspunkt, um eine tiefgreifende Reform abzuschließen. Das muss aber bald passieren.
Muss die EU vielleicht mehrere Abkommen reformieren? Nicht nur Dublin, sondern auch Schengen, Nizza oder Lissabon?
Die erste Reform heißt: weniger Bürokratie, mehr Strategie, mehr reale Politik. Die Politik, nicht die Verwaltung, muss über die großen Probleme entscheiden. Das ist wie mit einem Auto. Die Bürokratie ist ein gutes Auto, aber der Fahrer ist die Politik. Ohne Fahrer bringt das beste Auto nichts.
Der wechselnde Ratsvor- sitz hat zum Ziel, die EU seinen Bürgern näherzubringen. Nun ist in Österreich eine EU- kritische Partei in der Regierung, ebenso in Italien, Ungarn, Tschechien und Polen. Wie sieht die Zukunft der Union aus?
Wir müssen die Distanz zwischen den Bürgern der EU und den Institutionen weiter reduzieren. Das ist auch mein Job. Meine erste Ansprache als Parlamentspräsident handelte davon, dafür wurde ich gewählt. Ich stimme zu, aber wenn man gute Ergebnisse haben will, dürfen wir die Bürger nicht verlieren. Das Problem sind nicht die populistischen Parteien in den Regierungen, sondern warum sie von den Bürgern gewählt wurden. Ganz einfach: Sie sind nicht glücklich.
Wird die EU daran zerbrechen?
Nein, nicht an den populistischen Parteien. Das Problem ist, dass wir bislang keine Lösung für die illegale Migration hatten. Entweder es gibt eine europäische
Lösung oder 27 nationale. Das würde die EU aber umbringen.
Die Benelux- Länder, die Visegrád- Staaten, die nordischen Staaten – das sind kleine Gemeinschaften innerhalb der EU. Österreich fühlt sich oft nirgends zugehörig. Welche Rolle kann Österreich in einem neuen starken Europa spielen?
Österreich ist für die Stabilität auf dem Balkan wichtig. Der Balkan hat für Europa Priorität, auch für eine mögliche Erweiterung. Serbien möglicherweise, wer weiß?
Die EU entwickelte sich vom Friedens- und Wirtschaftsprojekt zum Sicherheitsprojekt. „ Ein Europa, das schützt“lautet das Motto der österreichischen Ratspräsidentschaft. Seit über 70 Jahren war kein EU- Mitglied mit Ausnahme Sloweniens und Kroatiens Kriegsschauplatz. Muss man sich um Europa tatsächlich sorgen?
Immigration ist eine große Gefahr für Europa. Maßnahmen gegen illegale Migration, auch im Sinne einer möglichen Erweiterung und dafür notwendigen Stabilität auf dem Balkan, sind vorrangig.