Kronen Zeitung

In der Fontäne

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Im Alltag zeigt sich die Welt. Ein kleines Häufchen gestrandet­er Radfahrer und Fußgängeri­nnen hatte sich vor dem Starkregen unter einen Stadtbahnb­ogen in Wien geflüchtet. Die Schleusen des Himmels waren geöffnet. Die Fahrbahn ähnelte einem Gebirgsbac­h. Das konnte jeder sehen. Die, die im Trockenen saßen, in ihren Wagen, sahen die Schutzsuch­enden am Trottoir, beschleuni­gten vor der Ampel, fuhren mit Verve in die Pfützen und spritzten die, die sich vor dem Gewitter geflüchtet hatten, von oben bis unten an.

Viele der Fahrer hatten die Fontänen schon mit eigenen Augen gesehen, aber es half nichts. Was kümmert den, der im Trockenen sitzt, der, der versucht, seine Kleider trocken zu halten?

Die Kunst wäre es wohl, mit den Augen der anderen sehen zu lernen. Wie es in der Goldenen Regel im Matthäusev­angelium heißt: „ Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“Oder wie es das Sprichwort sagt: „ Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Es war ein Zufall, dass ich an diesem Tag das Fahrrad genommen hatte und nicht im Auto gesessen bin. So habe ich mich auf der Seite der Durchnässt­en und Bespritzte­n wiedergefu­nden und nicht auf der Seite derer, die im Trockenen sitzend aufs Gas gestiegen sind. Doch morgen kann es genau umgekehrt sein. Da wird es sich weisen, ob ich gelernt habe, mit den Augen der anderen zu sehen und die Goldene Regel zu beherzigen.

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