Das Wien des Nordens
Als Handels- und Tuchmacherstadt erlangte das nordböhmische Reichenberg während der Monarchie große Bedeutung. Ab 1918 nahm die Geschichte eine dramatische Wendung.
Eingebettet in das Isergebirge im Norden Tschechiens liegt Reichenberg/ Liberec. Wer durch die alten Gassen schlendert, fühlt sich an Wien erinnert. Und tatsächlich verbindet die beiden Städte eine gemeinsame Geschichte. Im 13. Jahrhundert ließen sich in der Region deutsche Sied- ler nieder. 1577 erhielt Reichenberg das Stadtrecht. Ab 1804 gehörte die Gemeinde zum Kaisertum Österreich. Rund 90 Prozent der Einwohner waren deutscher Muttersprache, unter ihnen auch viele Juden, die als tüchtige Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte oder Fabrikanten arbeiteten. So besaß hier etwa die Familie des berühmten österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig („ Die Schachnovelle“) eine wirtschaftlich gut gehende Textilmanufaktur.
Rathaus und Synagoge drücken Wohlstand aus
Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Reichenberg seine Blütezeit als bedeutendste Industrie- und Tuchmacherstadt der gesamten Monarchie. Der Wohlstand wuchs, und das wollten die Bürger auch zeigen. Von 1887 bis 1889 wurde nach den Plänen des Wiener Architekten Carl König die Synagoge errichtet. Ein Drittel der Kosten übernahmen nichtjüdische Reichenberger. Das Rathaus ent-
stand zwischen 1888 und 1893 nach einem Entwurf des Wieners Franz von Neumann und brachte der Gemeinde den Namen „ Wien des Nordens“ein. Mit dem Ende der Monarchie 1918 wurde die Stadt gegen den Willen der Bewohner der Tschechoslowakei zugesprochen. Die wichtigsten Absatzmärkte brachen weg, die Wirtschaft stagnierte. Und obwohl die Prager Regierung das Ziel verfolgte, die deutschsprachigen Altösterreicher aus der ČSSR zu vertreiben, ging das Leben vorerst normal weiter.
„ Mit Politik hatten wir nichts am Hut“, so Otto Renger ( 92), der heute in Australien lebt. „ Die Straßenschilder waren jetzt halt zweisprachig, aber viele Bürger auch. Ich kann von keinen Problemen oder Diskriminierungen berichten. Wir unterschieden auch nicht zwischen Deutschen, Tschechen und Juden. Wir waren einfach Reichenberger.“
Doch die Zeiten änderten sich: 1938 marschierten deutsche Truppen in Böhmen ein und wurden jubelnd empfangen. 1945 setzte die tschechoslowakische Regierung ihre langjährigen Pläne um und vertrieb die rund 60.000 deutschsprachigen Bewohner der Stadt. Das alte Reichenberg hatte aufgehört zu existieren.