Kronen Zeitung

Das lebendige Brot

- Von Kardinal Christoph Schönborn

Heute wird in ganz Österreich ein seltsamer Ritus vollzogen. In allen Städten und Dörfern versammeln sich Menschen, um in einer Prozession ein Stück Brot feierlich durch die Straßen zu tragen. Dabei spielt die Blasmusik, es wird gesungen und gebetet. Immer wieder hält der Zug an, das Stück Brot wird erhoben, und mit ihm werden die Menschen gesegnet. Das strahlend weiße, scheibenfö­rmige Brot wird freilich nicht einfach in der Hand gehalten, es befindet sich in der Mitte eines kostbaren, meist goldenen Gefäßes, das feierlich von einem Priester getragen wird. Um die Würde dieser Brotscheib­e zu betonen, geht der Priester mit dem Gefäß unter einem von vier Personen getragenen Baldachin.

Vielen Menschen in Österreich ist dieser Ritus wohlbekann­t. Es ist die Fronleichn­amsprozess­ion. Das Brotgefäß ist die Monstranz, der Baldachin

der „Himmel“. Und auch die Bedeutung dieser Zeremonie ist nicht unbekannt. Denn das Stückchen Brot gilt als das Kostbarste, was man sich vorstellen kann. Es wird „das Allerheili­gste“genannt, weshalb es mit so viel ausgewählt­er Feierlichk­eit umgeben wird. Man spricht vom „heiligen Brot“, vom „geweihten Brot“. Es wird aber auch einfach „Leib Christi“geheißen. Das Wort „Fronleichn­am“bedeutet ja „Leib des Herrn“.

Jedes Jahr nehme ich an einer dieser Prozession­en teil, dem „Stadtumgan­g“in der Wiener Innenstadt. Wenn ich selber dieses Stück Brot in der Monstranz durch die Straßen trage, bewegt mich immer neu die Frage: Was denken sich wohl die vielen Touristen, an denen wir vorbeizieh­en? Und was empfinden unsere eigenen Landsleute, die mit diesem seltsamen Schauspiel wenig anzufangen wissen? Dann kommt mir immer wieder die persönlich­e Frage: Was bedeutet dieser Tag, dieser Umzug für mich selber? Was sagt mir diese weiße Brotscheib­e, die ich an den Menschen am Straßenran­d vorbeitrag­e?

Viele Gedanken gehen mir dabei durch Herz und Sinn. Zuerst ist es einfach die Dankbarkei­t für das tägliche Brot. Jesus hat uns gelehrt, wir sollten Gott ums tägliche Brot bitten. Es ist nicht selbstvers­tändlich, dass wir zu essen haben. Brot steht für die Nahrung, ohne die wir nicht leben können. Das allein wäre Grund genug, einmal im Jahr ein Stück Brot zu verehren, als Dank und Bitte an Gott, dass uns das Brot nie fehlen möge.

Ich denke auch daran, dass Jesus immer wieder das Brot geteilt hat. Nach jüdischem Ritus hat er vor jeder Mahlzeit den Brotsegen gesprochen und das Brot gebrochen und ausgeteilt. Jesus hat uns nicht gelehrt, nur für mein tägliches Brot zu beten, sondern für unseres. Brot muss für alle da sein. Bis heute bringe ich es nicht über mich, Brot wegzuwerfe­n. Deshalb ist das Teilen des Brotes mit den anderen etwas Heiliges.

Heiliges Brot: Das weiße Brot in der Monstranz ist der Leib Jesu selber. Jesus wollte sein Leben mit den Menschen teilen, wie er das Brot mit ihnen geteilt hat. Deshalb hat er Brot zu seinem Leib gemacht, damit er selber uns zur Nahrung wird. Dieses lebendige Brot, Jesus selber, zu verehren, das ist der Sinn der vielen Prozession­en, die heute im ganzen Land gefeiert werden.

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Fronleichn­am: Jesus im heiligen Brot verehren.
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