Denken Sie nie ans Aufhören, Herr Lendvai?
Eine große Persönlichkeit der Zweiten Republik wird 90: Im großen Geburtstagsinterview spricht ORF-Legende Paul Lendvai über Politik und Macht, Standpunkte und Herzblut, seinen unausrottbaren ungarischen Akzent und das süße Leben im Ausseerland.
Wölkchen am Sommerhimmel wie gemalt, die mächtigen, stolzen Berge, der tintenblaue See. Professor Paul Lendvai, der am 24. August 90 Jahre alt wird, steigt die steinernen Stufen hinunter ans Ufer wie ein junges Reh. „Was liebe ich diese Gegend“, seufzt er bei einem Rundgang und erzählt von seiner ersten Hochzeitsreise, die ihn vor mehr als 50 Jahren durch Zufall ins steirische Salzkammergut geführt hat. Heute hat der Journalist und Buchautor in Altaussee eine kleine Dachgeschoßwohnung mit Blick aufs Wasser.
Der 90. Geburtstag wirft seine Schatten voraus. Haben Sie sich 90 so vorgestellt?
Ich war immer niedergeschlagen, wenn ich mir den Neuner vorgestellt habe. Aber auch dankbar, weil ich unverschämt viel Glück hatte in meinem Leben. Dass ich diesen Geburtstag erlebe, noch spazieren kann, mit einer fantastischen, nicht immer leichten Ehefrau . . . Zsoka ruft uns vom Schreibtisch zu, dass sie mithört. Dass ich noch immer Bücher schreibe und tätig bin, ist eigentlich unglaublich.
Welche Wehwehchen plagen Sie am meisten?
Ich hatte ja 1991 einen Herzinfarkt. Damals holte mich der Hubschrauber direkt aus dem ORF, ich hatte großes Glück, weil ein Defibrillator zur Stelle war. Kleiner Vorderwandinfarkt, ich war vier Wochen im AKH und danach auf Kur, ein paar Jahre später bekam ich einen Stent. Seitdem gehöre ich zur Gewerkschaft der Herzpatienten und nehme eine Reihe von Medikamenten. Aber sonst habe ich keine größeren Probleme.
Nur kleinere?
Ja, die Haare werden weniger, und die Zähne sind auch weg. Aber Lifting machen wir noch keines! – Lacht. – Und ich brauche dieses Hörgerät. Meine Frau hat es mir befohlen. Ich wusste es eh. Bei der Beerdigung von Gerd Bacher hat André Heller eine großartige Rede gehalten, und ich habe kein Wort verstanden.
Ihr Markenzeichen war immer das Ungarische. Der Akzent, das Temperament. Hat man Ihnen nie nahegelegt, an diesem Akzent zu arbeiten?
Nein, denn man kann ihn sowieso nicht auslöschen. Und in Wahrheit war er ein Glücksfall für mich. Hätte ich einen tschechischen, kirgisischen oder russischen Akzent gehabt, wer weiß, ob mir die Leute dann so gerne zugehört hätten.
Was kann die ungarische Sprache, was Englisch und Deutsch nicht können?
Es ist eine sehr musikalische Sprache, eine sehr reiche Sprache, ideal für das Fluchen, für die Liebe und für Gedichte.
Mit 90 noch am Bildschirm, das ist schon sehr ungewöhnlich. Haben Sie einen lebenslangen ORF-Vertrag?
Ich habe einen Brief. Immer am Jahresanfang bekomme ich einen Brief des Chefredakteurs, unterschrieben vom ORF-Generaldirektor. Da steht, dass sie sich freuen, wenn ich acht Europastudios moderiere. Ich weiß nicht, ob es lebenslang ist. Aber bis Ende 2019 ist es jedenfalls noch.
Denken Sie gar nie ans Aufhören?
Nie. Ich schaue immer in die Zukunft. Weil ich so nicht leben könnte: Nichts mehr machen, nur noch reisen und lesen. Ich bin 1998 offiziell in Pension gegangen, aber ich bin nicht im Ruhestand. Ich schreibe weiterhin jeden Dienstag meine Kolumne, ich mache meine Zeitschrift, „Die Europäische Rundschau“, und ich moderiere das „Europastudio“.
Wie lange soll das noch so weitergehen?
Bis die Leute sagen: „Der ist schon ein Greis, der kann ja gar nicht mehr zusammenhängend reden.“Oder: „Der hat keine Ideen mehr.“Vor allem aber, wenn meine Frau mir sagen würde: „Hör auf!“Sie ist sehr hart. Wenn sie es sagt, dann werde ich aufhören.
Unser verstorbener Herausgeber Hans Dichand meinte einmal, er würde eigentlich am liebsten im Büro sterben, und es mache ihm auch gar keine Angst. Wie ist es bei Ihnen?
Ich habe ihn oft besucht. Er hat immer meine Bücher gelesen. Wie möchte ich sterben? Schnell und ohne vorher krank zu werden. Lieber zu Hause. Elias Canetti ist im Alter von 97 einfach nicht mehr aufgewacht. Ich denke nicht an den Tod, aber so könnte ich es mir vorstellen,
Ich könnte so nicht leben: Nichts mehr machen, nur noch reisen und lesen. Ich bin in Pension, aber nicht im Ruhestand.
ohne Kampf oder lebensverlängernde Maßnahmen.
Herr Lendvai, Sie wurden wegen Ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt, entgingen nur knapp dem Holocaust, Sie wurden interniert, mit Berufsverbot belegt. Kann ein Journalist mit diesen Erfahrungen von einem neutralen Standpunkt aus berichten, mit einer Distanz zu allem und jedem?
Goethe hat geschrieben: „Aufrichtig zu sein kann ich versprechen – unparteisch zu sein aber nicht.“Deshalb versuche ich, in meiner Arbeit nicht von Emotionen geleitet zu werden, sondern ausgewogen, sachlich, aber unbestechlich Phänomene oder Persönlichkeiten zu beschreiben. Dazu gehört aber auch ein gewisses Engagement. Man kann nicht völlig wertfrei beschreiben, wie Menschen aus politischen oder rassistischen Gründen umgebracht werden. Aber ich analysiere es nicht auf der Grundlage von vorgefassten Meinungen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich werde kritisiert, weil ich über Orbán gesagt habe, dass er ein sehr begabter, raffinierter Politiker ist. Das ist aber kein Werturteil, das ist ein Blutbefund. Und dann muss man über die Verfassung, über Medienfreiheit, Korruption und Bereicherung der eigenen Familie sprechen. Man muss aussprechen, was Sache ist. Mein Motto ist ein Zitat von Marx: „De omnibus dubitandum est“– „an allem zweifeln.“
Sachliches Herzblut?
Das ist schön gesagt. Es rührt mich, aber ich kann es nicht für mich in Anspruch nehmen.
Stichwort Orbán. Wie konnte sich, um mit Ihren Worten zu sprechen, ein so begabter Politiker in diese Richtung entwickeln?
„Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.“(Lord Acton 1834–1902). Darum geht es auch in meinem neuesten Buch. Wenn in einem Land alle Medien in einer Hand sind und man kein kritisches Wort mehr liest, dann stimmt etwas nicht.
Halten Sie so eine Entwicklung in Österreich auch für möglich?
Nicht mehr. Einer der glücklichsten Momente meines Lebens war der 17. Mai, als das Ibiza-Video veröffentlicht wurde.
Elias Canetti ist im Alter von 97 einfach nicht mehr aufgewacht. So könnte ich es mir auch vorstellen, am liebsten zu Hause.