Denken Sie nie ans Aufhören Herr Lendvai?
Glücklicher Moment?
Ich war erschüttert von dieser ungeheuren Selbstentlarvung einer Partei. Ich bewerte nicht, ob es richtig war, was Sebastian Kurz gemacht hat. Aber Ibiza hat einen heilenden Prozess in Gang gesetzt, wie ein Naturwunder. Es ist einfach passiert. Und es hat gezeigt, wie gefährlich Macht ist, wenn Zivilcourage und Opposition und Medien fehlen. Schauen Sie, was in Italien passiert! Was Salvini macht, dieser Taschen-Mussolini mit einem SamsungGerät.
Ist es wirklich ein Sittenbild der gesamten Partei, wenn zwei Vertreter sich so verhalten?
Schauen Sie doch die Liederbuch-Affäre an. Es hat mich maßlos gestört, dass man so technisch diskutiert hat. Ob man das jetzt gesungen hat, ob man davon gewusst hat. Für mich reicht es, dass es so etwas noch immer gibt. Und es gibt nur eine Partei, in der so unglaubliche Dinge immer wieder passieren. Ich habe zu Hause in meinem Büro 300 Bücher über den Holocaust, ich habe in meinem Buch über Österreich auch über die braunen Flecken in der SPÖ geschrieben. Die Frage ist: Lernt man daraus oder nicht?
Verstehen Sie, dass viele Menschen diese Partei wählen, weil sie mit der Migration nicht mehr klarkommen?
Natürlich verstehe ich das. Ich komme aus einem Land, wo in mehreren Wellen Menschen emigrieren mussten und heute eine halbe Million Menschen außerhalb des Landes arbeiten, viele illegal. Es ist nicht die Frage, ob man diese Wanderung kontrolliert, sondern wie. Man darf Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen eine neue Heimat suchen, auch nicht mit Flüchtlingen verwechseln, die vor Unterdrückung, Krieg etc. fliehen. Wenn in Deutschland Juden angespuckt werden, dann sagt man, das ist schrecklich, weil es von muslimischen Migranten ausgegangen ist. Aber die schlimmsten Attentate in Deutschland und Amerika wurden zuletzt von Rechtsextremisten begangen. Also das kann man nicht so sauber aufteilen wie in einem Lebensmittelladen.
Sie waren lange Vorsitzender des Migrationsrates. Was war da Ihre Conclusio?
Österreich braucht qualifizierte Einwanderer. Sie müssen die Möglichkeit haben, zu uns zu kommen. Diese Entwicklung muss die Politik kontrollieren. Asyl ist etwas ganz anderes.
In Ihrem Buch „Die verspielte Welt“geht es auch um Macht und Mythos – von Kreisky, Androsch bis hin zu Gusenbauer und Häupl. Warum kommt Kern nicht vor?
Lange Pause. Paul Lendvais Stirn legt sich in Runzeln. Dann sagt er mit fester Stimme: Ich betrachte ihn als den Zerstörer der Reste der österreichischen Sozialdemokratie. Die Art, wie er sich benommen hat, wie er mit der Europawahlkandidatur gespielt hat, wie er seine Nachfolgerin diskreditiert hat. Und dann, während sie verzweifelt kämpft, noch Erklärungen abzugeben, seine Eitelkeit auf Instagram. Ich habe ihn, wie so viele, überschätzt.
Hätten Sie sich 2017 eine türkis-rote Koalition gewünscht?
Ich war immer ein Anhänger der Großen Koalition mit einer konstruktiven Opposition. Heute wäre ich schon glücklich, wenn es eine handlungsund arbeitsfähige Regierung gäbe.
Könnte es das nächste Mal auch wieder Türkis-Blau sein?
Da wäre ich nicht sehr begeistert, nach all diesen Erfahrungen. Ich glaube, dass es zu früh wäre, wieder mit der FPÖ zusammenzugehen. Eine Partei muss aus der Geschichte lernen.
Haben Sie das Buch von Helmut Brandstätter gelesen?
Natürlich.
Hat er recht, dass Kurz und Kickl Antidemokraten sind?
Bei Kurz ist diese Bestandsaufnahme jedenfalls zu früh. Ich kenne ihn seit acht Jahren oberflächlich. Ich leite seit vielen Jahren – eine große Ehre – in Niederösterreich das Europaforum. Da war er auch als junger Staatssekretär. Ich habe mit ihm keine näheren Kontakte gehabt, auch als Außenminister, ich war kein Berater, er hat mich nicht gefragt. Ich habe es immer als Phänomen betrachtet, dass man in diesem Alter das bewältigen kann. Dann war ich beeindruckt von seiner Haltung zum Judentum und Israel. Ich gehöre vielleicht zu jenen, die ihn noch nicht gänzlich abschreiben. Er ist 32, und ich gebe ihm eine Chance. Wie heißt es im Englischen so schön? „The proof of the pudding is in the eating“. Man wird sehen.
Was wünscht man sich noch mit 90?
Glück und Gesundheit.
Sonst nichts?
Das ist die Grundlage dafür, dass ich weiter denken kann und mein Leben mit meiner geliebten Frau genießen kann.
Wünschen Sie sich das von einer höheren Macht oder von Gott?
Ich bin Agnostiker, wie Kreisky. Wenn man 1944 erlebt hat, tut mir leid . . . Ich respektiere Menschen, die glauben. Aber ich glaube an keine höhere Macht oder den Himmel. Ich versuche, auf der Erde zu bleiben, weiterhin gegen Dummheit, Rassismus, Antisemitismus zu kämpfen, um mehr Verständnis und Toleranz in diesem Land zu werben. Man sieht in den Nachbarländern, wie schnell das gehen kann, wie schnell es sich dreht.
Was soll man einmal über Paul Lendvai sagen?
Er war ein Suchender, ein Zweifelnder, ein tätiger Mann.
Man kann nicht völlig wertfrei beschreiben, wie Menschen aus politischen und rassistischen Gründen umgebracht werden.
Ich betrachte Christian Kern als Zerstörer der Sozialdemokratie. Ich habe ihn, wie so viele, überschätzt.