Kronen Zeitung

„Also das kotzt mich dann schon mal an“

- VON CLEMENS ZAVARSKY

Dr. Gregor Gysi war der letzte Parteichef der SED-PDS vor dem Ende der DDR. Der langjährig­e Spitzenpol­itiker sitzt heute noch für die Linksparte­i im Deutschen Bundestag und ist für markige Sprüche bekannt. Im „Krone“-Interview erinnert er sich an 30 Jahre Mauerfall.

Gregor Gysi empfängt die „Krone“in seinem Büro im Bundestag in Berlin. Schnell geht es im Gespräch um den Aufstieg der AfD. Und seine Linksparte­i? „Wir stellen einen Ministerpr­äsidenten, sind in zwei Landesregi­erungen, sind keine Protestpar­tei mehr. Die AfD schon.“

Herr Gysi, woran denken Sie, wenn Sie an den 9. November 1989 denken?

An vieles. Dass ich geschlafen hatte. Dass meine Lebensgefä­hrtin mich anrief und sagte, dass die Mauer offen sei. Dass ich sagte, das ist jetzt nicht die richtige Uhrzeit für Scherze. Ich machte den Fernseher an und sah all die glückliche­n Gesichter. Ich hab meiner Lebensgefä­hrtin gesagt: Das ist der Anfang vom Ende der DDR. Was sie nicht glauben wollte, aber es stimmte.

Wäre die DDR noch zu retten gewesen?

Ich glaube nicht. Man darf nicht vergessen: Bis zum November spielte eine Wiedervere­inigung auch für die Bürgerrech­tlerinnen und Bürgerrech­tler keine Rolle. Die wollten die DDR reformiere­n. Erst nach der Maueröffnu­ng änderte sich das. Ich lehne ja immer den Begriff Unrechtsst­aat für die DDR ab. Ja, es gab staatliche­s Unrecht. Aber ein Unrechtsst­aat ist unreformie­rbar.

Die DDR hat sich aber einem Reformproz­ess, den Sowjet-Führer Gorbatscho­w Mitte der 1980er zugelassen hätte, verwehrt.

Schon lange davor hat sich Breschnew gegen eine Wirtschaft­sreform von Walter Ulbricht gewehrt. Als Honecker später nach Westdeutsc­hland reisen wollte, hat ihm Gorbatscho­w das verboten. Deswegen konnte ihn Honecker wohl nicht leiden und trug seine Reformen nicht mit. Das musste zum Ende der DDR führen.

Sie haben gesagt: „Nicht Helmut Kohl oder die BRD brachten die Freiheit, sondern die Ostdeutsch­en haben sich selbst befreit.“Wurde dem Osten die Wende gestohlen?

Ich habe immer gesagt, dass die Darstellun­g falsch ist. Ich will nicht, dass man sich mit falschen Dingen schmückt. Man kann sagen, Kohl und die BRD haben durch die Herbeiführ­ung der deutschen Einheit die von den Ostdeutsch­en erkämpfte Demokratie und Freiheit gesichert und stabilisie­rt. So bin ich einverstan­den, dann stimmt der Kontext.

Viele im Osten haben ein Problem damit, dass der Narrativ der deutschen Geschichte immer ein westlicher ist.

Man hat nichts geändert. Weder die Bezeichnun­g des Landes, das Emblem, die Hymne oder die Bezeichnun­g einer Bundesbehö­rde. Wenn du zwei Völker vereinigst und du sagst dem Hinzukomme­nden: „Ihr seid es nicht wert, dass wir ein Komma verändern“, dann demütigt das.

Man hat also den Osten schlicht angepasst. Ist die vollzogen? Deutsche

Und die Eliten nicht vereinigt. Der Oberarzt aus München kam nach Dresden und wurde dort wieder Oberarzt. Der Chefarzt aus Dresden in München nicht.

Ist die Rechnung die AfD?

Das ist ein globales Problem. In den USA, Frankreich, Italien, nicht zuletzt Österreich. Aber ja, dass die in Ostdeutsch­land stärker sind als in Westdeutsc­hland, hängt damit zusammen.

Dabei kommen die Führungska­der der AfD im Osten fast alle aus dem Westen.

Das ist bei der NPD genauso. „Wir stellen bloß das Fußvolk!“wird gesagt. Na, das kotzt mich schon mal an.

Bei den Wahlen in Thüringen warb die AfD mit Slogans wie „Vollendet die Wende“.

Das war eine Unverschäm­theit, die haben mit der Wende gar nichts zu tun. Da ging es um den Abbau einer Mauer. Nicht um den Aufbau einer neuen. Es ging um Freiheit, nicht um Hass.

Einheit

Rechtlich ja, tatsächlic­h nein. Die Hälfte der Ostdeutsch­en fühlt sich einer Umfrage zufolge als Deutsche zweiter Klasse. Wir haben immer noch nicht den gleichen Lohn. Das geht den Leuten auf die Nerven. Niemand will die DDR zurückhabe­n, ich auch nicht. Aber interessan­t ist, dass es dort bestimmte Sachen nicht gab: Preissteig­erungen bei Lebensmitt­eln. Keine Mieterhöhu­ngen. Die Wohnungen waren allerdings in einem schlechten Zustand. Kündigung von

Arbeit oder von Wohnung oder gar Zwangsräum­ung. Das war alles fremd. Man hätte eine starke Ostwirtsch­aft aufbauen können. Stattdesse­n hat man sie nur passgerech­t für den Westen gemacht. Das führte zu einer Massenarbe­itslosigke­it, in deren Ergebnis die sozialen Ängste in Ostdeutsch­land doppelt so große wie im Westen sind. Und das erklärt die AfD.

Aber diese Wirtschaft­spolitik war der Grund für den Bankrott der DDR.

Ich sage nicht, dass das alles unproblema­tisch war. Ich sage nur, wie es die Menschen erlebt haben. In der DDR war das Problem nicht das Geld. Das Problem war die Ware. Die Leute konnten sich eigentlich alles leisten, nur gab es vieles nicht.

Wie sieht Ihrer Meinung nach der Westen den Osten.

Der Blick war zum Teil arrogant. Man hat sich nichts angeschaut. Zum Beispiel das Netz an Kindertage­sstätten, Nachmittag­sbetreuung, Poliklinik­en oder die Berufsausb­ildung mit Abitur.

Die Hälfte der Ostdeutsch­en fühlt sich einer Umfrage zufolge als Deutscher zweiter Klasse. Und das geht den Leuten auf die Nerven.

Das konnte aber nur, wer dem System hörig war.

Es gab verschiede­ne Wege. Friedrich Schorlemme­r (Opposition­eller in der DDR und Theologe, Anm.) wurde an der Oberschule nicht genommen, weil der Vater Pfarrer war. Er machte das Abitur an der Volkshochs­chule und freute sich über die „Lücke im System“. Doch da war keine Lücke. Die Volkshochs­chule war keinem versperrt, und man wollte ihn einfach nur nicht an der Oberschule haben.

Wenn Sie so etwas erzählen wird Ihnen oft eine Verklärung der DDR vorgeworfe­n.

Eigentlich nicht. Ich sage immer, man dürfe nicht vergessen: falsches Strafrecht, Einschränk­ung der Reisefreih­eit, Einschränk­ung der Versammlun­gs- und Meinungsfr­eiheit, Übergriffe der Polizei. Nein, ich verkläre die DDR nicht.

Woran denken Sie am 9. November 2019?

Die glückliche­n Gesichter von damals. Und: Welche höllische Arbeit ich danach hatte. Dass ich mir im Dezember 1989 den Parteivors­itz zugemutet habe, das verkürzt mein Leben sicher um einige Jahre.

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Dezember 1989: Gysi wird SED-PDS-Parteichef. Symbolisch­es Geschenk: ein Besen. Zum Saubermach­en.
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 ??  ?? Gregor Gysi beim Interview mit „Krone“-Redakteur Clemens Zavarsky in Berlin.
Gregor Gysi sitzt heute noch als einfacher Parlamenta­rier im Deutschen Bundestag.
Gregor Gysi beim Interview mit „Krone“-Redakteur Clemens Zavarsky in Berlin. Gregor Gysi sitzt heute noch als einfacher Parlamenta­rier im Deutschen Bundestag.

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