Von Lesern fur Leser
Die Pullover-Weihnachtsgans
Ineinem Vorort von Wien lebten in der hungrigen Zeit nach dem Krieg zwei nette alte Damen.
Damals war es noch schwer, sich für Weihnachten einen Festbraten zu verschaffen. Nun hatte die eine der Damen die Möglichkeit, auf dem Land – gegen allerlei Textilien – eine wohl magere, aber springlebendige Gans einzuhandeln. Zuhause begannen Agathe und ihre Schwester Emma das Tier zu füttern und zu pflegen. Agathe und Emma beschlossen feierlich, keinem einzigen Menschen davon zu erzählen. Erstens gab es die Neider, die sich keine Gans leisten konnten; zweitens wollten die beiden nicht mit irgendeinem der Verwandten später die gebratene Gans teilen, die inzwischen nudelfett geworden war. Deshalb empfingen die beiden Damen auch wochenlang keinen einzigen Besuch.
Und so kam der Morgen des 23. Dezember, die ahnungslose Gans stolzierte vergnügt aus ihrem Körbchen in der Küche in das Schlafzimmer der beiden Schwestern und begrüßte sie zärtlich schnatternd. Die beiden Damen vermieden es, sich anzusehen. Nicht weil sie böse aufeinander waren, sondern weil keine von ihnen die Gans schlachten wollte. „Du musst es tun“, sagte Agathe, nahm die Einkaufstasche und verließ eilige die Wohnung. Emma dachte nach, ob sie vielleicht einen Nachbarn bitten sollte, der Gans den Garaus zu machen. Aber dann würde man einen Teil von der gebratenen Gans abgeben müssen. Also schritt Emma zur Tat.
Als Agathe wiederkehrte, lag die Gans auf dem Küchentisch. Ihr langer Hals hing wehmütig herunter. Blut war keines zu sehen, aber dafür alsbald zwei liebe alte Damen, die sich heulend umschlungen hielten. „Wie hast du das gemacht?“, fragte Agathe. „Mit Veronal“, wimmerte Emma. „Ich habe ihr einige deiner Schlaftabletten gegeben“, schluchzte Emma. „Aber rupfen musst du sie.“Schließlich raffte sich Agathe auf und begann den noch warmen Vogel zu rupfen. Federchen für Federchen schwebte in den Papiersack, den die unentwegt weinende Emma hielt. Dann schluchzte Agathe: „Aber ausnehmen musst du sie.“Emma erklärte, es einfach nicht tun zu können. Und so beschlossen sie, nachdem es mittlerweile später Abend geworden war, das Ausnehmen auf den nächsten Tag zu verschieben.
Am nächsten Morgen wurden Agathe und Emma geweckt. Mit einem Ruck setzten sich die beiden Damen gleichzeitig im Bett auf und starrten mit aufgerissenen Augen und Mündern auf die Tür. Herein spazierte, zärtlich schnatternd wie früher, wenn auch zitternd und frierend, die gerupfte Gans.
Als am Weihnachtsabend zu den beiden Damen Besuch kam, um ihnen noch rasch zwei kleine Päckchen zu bringen, kam diesem ein vergnügt schnatterndes Tier entgegen, das nur wegen seines Kopfes als Gans zu erkennen war, denn das ganze Tier steckte in einem liebevoll gestrickten Pullover, den die beiden Damen hastig für ihren Liebling angefertigt hatten. Die Pullovergans lebte noch weitere 7 Jahre und starb dann eines natürlichen Todes.
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