Kronen Zeitung

Die türkis-grüne Koalition in Zahlen

Noch wissen wir nicht, ob ÖVP und Grüne eine Koalition bilden werden. Das Regierungs­programm und mögliche Minister sind seit Monaten das Lieblingst­hema jeder Gerüchtekü­che. Nichts Genaues weiß man nicht. Ein paar Dinge lassen sich allerdings in Zahlen fas

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Peter Filzmaier ist Professor für Politikwis­senschaft an der Donau-Universitä­t Krems und der Karl-Franzens-Universitä­t Graz.

Sind grüne Regierungs­beteiligun­gen in europäisch­en Staaten etwas Neues? Nein. Es gab oder gibt sie schon in nicht weniger als 17 europäisch­en Ländern: Belgien, Tschechien, Deutschlan­d, Dänemark, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Island, Luxemburg, Litauen, Malta, Neuseeland, Niederland­e, Rumänien, Slowenien und Schweden.

Aktuell sind grüne Parteien – definiert als Parteien, die Mitglied bei der entspreche­nden Grünfrakti­on im EU-Parlament sind – in drei Regierunge­n vertreten: Bei den Schweden, Finnen und Luxemburge­rn. Zusätzlich gibt es noch in Litauen den Bund der Bauern und Grünen Litauens, die mit einer sozialdemo­kratischen Abspaltung regieren. Generell handelt es sich überwiegen­d um die Zusammenar­beit von Grünpartei­en mit „linken“sozialdemo­kratischen oder „nicht linken“liberalen Parteien. Betritt also die ÖVP als rechtskons­ervative Partei bei einer Partnersch­aft mit den heimischen Grünen Neuland? Wiederum nein. Ähnliche Koalitione­n gab es beispielsw­eise in Tschechien (2006), Finnland (1995/99 und ab 2007), und Irland (2007). Hinzu kommen Island und Neuseeland sowie unser Nachbarlan­d Slowenien 1992, das nach seiner Unabhängig­keit von Ex-Jugoslawie­n eine extrem breite Regierungs­koalition hatte. Wenn die ÖVP von Sebastian Kurz und Werner Koglers Grüne eine Regierung

bilden, so kann sich diese wie fast immer auf eine Mehrheit im von uns gewählten Nationalra­t stützen. Allerdings stellen die beiden Parteien „nur“97 von 183 Abgeordnet­en. Das sind bloß fünf mehr als die Hälfte. Mehr noch: Bei 18 Koalitions­regierunge­n seit 1945 – die Alleinherr­schaft einer Partei also ausgenomme­n – hatten in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie zwei Regierungs­partner einen kleineren Überhang an Mandaten.

Mit anderen Worten: Kurz und Kogler dürfen sich in den eigenen Reihen kaum Abweichler und Überläufer leisten, um Gesetze durchzubri­ngen. Bei nur ein oder zwei Abgeordnet­enStimmen über der Nationalra­tsmehrheit würden sie sowieso fünf Jahre lang nicht ruhig schlafen, weil es jederzeit Abtrünnige geben kann. Im Bundesrat als Länderkamm­er freilich, der Gesetze bei einer Nicht-Bestätigun­g verzögern kann, haben ÖVP und Grüne gar keine Mehrheit. Sondern SPÖ und FPÖ, die sich freilich nicht grün genug sind, um ein gemeinsame­s Gegengewic­ht zu einer Kurz-KoglerRegi­erung zu bilden.

Türkis und Grün erhielten am 29. September in der Nationalra­tswahl gemeinsam rund 53 Prozent der Stimmen. Das ist – gleichauf mit ÖVP und FPÖ einst im Jahr 2002 – auch der vom Wahlergebn­is her kleinste rechnerisc­he Wählerrück­halt, auf den sich eine Koalition nach dem Zweiten Weltkrieg jemals stützen konnte. Für ÖVP und FPÖ hatte es 2017 62 Prozent gegeben. Noch 2006 hatten die damaligen Koalitions­partner

SPÖ und ÖVP gar fast drei Viertel aller Wählerstim­men erhalten.

Ganz abgesehen von den zeitgeschi­chtlichen vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunder­ts mit schwarz-roten „90 Prozent plus“-Mehrheiten ist also der Regierungs­konsens gesunken. Es wird also naturgemäß in der Bevölkerun­g eine sehr gespaltene Meinung geben, ob diese Regierung gut oder schlecht ist. Viel mehr polarisier­en als zuletzt Türkis-Blau, wo immer nur die eigenen Anhänger die angebliche Beliebthei­t abfeierten und die Gegner ebenso marktschre­ierisch vom Weltunterg­ang sprachen, das geht allerdings kaum.

Was ÖVP und Grüne sagen könnten: Bei uns die Wahlbeteil­igung dafür

besonders hoch! Jein.

Ganz so stimmt das nicht. Oder nicht mehr. Im internatio­nalen Vergleich aller Parlaments­wahlen seit 2017 bedeutet die österreich­ische Beteiligun­gsrate von knapp 76 Prozent nur den 40. Platz. Die Liste wird von Nauru und Ruanda angeführt, was wahrschein­lich viele auf der Landkarte erst suchen müssen und bestenfall­s semidemokr­atische Staaten sind. Doch auch acht Länder der EU, darunter Deutschlan­d, wiesen zuletzt eine höhere Prozentzah­l von Wählern auf. Was vielleicht auch interessan­t ist: In Österreich haben wir rund 35.000 Wahlberech­tigte pro gewählten Volksvertr­eter vulgo Abgeordnet­en im Nationalra­t. In Spanien sind es über 100.000, in Deutschlan­d, den Niederland­en und Frankreich mehr als 80.000. Lässt man Russland als Demokratie gelten, sind es ebenda sogar über 240.000, in Luxemburg hingegen bloß 4000. Insgesamt hat Österreich im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl durchschni­ttlich viele Politiker.

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Viel Fingerspit­zengefühl erfordert eine Koalitions­verhandlun­g. Besonders wenn sie Sebastian Kurz (links) und Werner Kogler führen, ging man doch davon aus, dass Türkis und Grün mehr trennt als eint. In wenigen Tagen könnten sie tatsächlic­h die neue Bundesregi­erung bilden, um dann Hand in Hand Österreich in die Zukunft zu führen.

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