Die offenen Fragen in der Krise
Österreich hat die Infektionen mit dem Coronavirus verringert und die Totenzahl beschränkt. Das ist sehr gut, Politik und Bevölkerung haben viel richtig gemacht. Trotzdem sollten wir statt Eigenlob eine Fehleranalyse machen. Weil ja eine zweite Pandemiewe
Wie ist es möglich, dass von den Staaten der Welt unterschiedliche Maßnahmen zur Virusbekämpfung stets als „alternativlos“bezeichnet werden? Wäre es nicht sinnvoll, dass wir uns – nachdem alle Regierungen zuerst rasch handeln mussten, das ist verständlich – nun wenigstens innerhalb der EU durch Absprachen für den Fall einer zweiten Welle über ein gemeinsames Vorgehen verständigen? Würde das nicht spätere Grenzöffnungen erleichtern?
Schweden hat mit seiner liberalen Strategie viel zu viele Todesfälle, doch wie genau hat Südkorea ohne totalen Stopp des Lebens im Land das Virus einstweilen besiegt? Lautet die Antwort „Testen, testen, testen!“und konsequentes Isolieren der Verdachtsfälle, was auch Bundeskanzler Sebastian Kurz als Lösung angepriesen hat? Wenn ja, wann dürfen wir mit den von Kurz ebenfalls im März angekündigten 15.000 Tests pro Tag rechnen? Derzeit sind es nur rund halb so viele.
Wie kann in Österreich ein Meter, in Deutschland eineinhalb Meter und in der Schweiz zwei Meter der „richtige“Abstand sein? Warum konnte man sich bei uns unbeschränkt im Freien aufhalten, in Frankreich höchstens eine Stunde im Umkreis von einem Kilometer und in Spanien gar nicht? Müssen vier „Haushaltsfremde“ab Mitte Mai im Meterabstand spazieren, dürfen allerdings in Lokalen an Vierertischen eng Seite an Seite sitzen? Sind 100 Leute an 25 solchen Tischen im Restaurant zulässig, während dieselbe Sitzordnung mit einem Künstler auf der Bühne eine verbotene Kulturveranstaltung wäre?
All das mag nach unlogischen Kleinigkeiten klingen, war und ist jedoch unser Alltag. Gab es nicht auch in den Politikeraussagen – von der Maskenpflicht (ja oder nein?) bis zu den Gründen, das Haus zu verlassen – ein Hin und Her? Zur Klarstellung: Politiker standen bei der Bekämpfung des Coronavirus unter riesigem Zeit- und Entscheidungsdruck, wobei es um viele Menschenleben ging. Dafür gebührt ihnen Respekt statt billiger Besserwisserei im
Nachhinein! Doch warum haben sich bei den Regeln, die wir befolgen müssen, das Wort von Regierungspolitikern und der Text von Verordnungen so oft widersprochen?
Heute wissen wir, dass während der Ausgangsbeschränkungen gegenseitige Besuche in der Wohnung oder sogar dortige Gruppentreffen von Freunden rechtlich erlaubt waren. Derartige Verabredungen wären verantwortungslos gewesen, doch warum hat die Regierungsspitze das als Vorschrift dargestellt? Können
jetzt wegen fehlerhafter Verordnungen dummdreiste Veranstalter einer „Corona-Party“nicht bestraft werden? Weshalb sprachen Kanzler und Minister stattdessen ständig von „erlaubten Spaziergängen“und „Füße vertreten“, was beides in der Regierungsverordnung überhaupt nicht vorkam?
Wo gearbeitet wird, passieren Irrtümer. Das ist menschlich. Doch was wird unternommen, damit sich solche Fehler bei einer neuerlichen Pandemiewelle nicht wiederholen? Warum musste der Gesundheitsminister vor wenigen Tagen extra versichern, dass es – den Grundrechten entsprechend – keine kontrollierende Polizei in unseren vier Wänden geben wird? Wer hat dennoch das Wörtchen „vorerst“in die Presseinformation der Regierung geschrieben?
Um die Entwicklung einer Pandemie zu beurteilen, sind naturgemäß die Zahlen entscheidend, wie viele Infizierte und Tote es gibt. Warum bieten die Behörden keine einheitliche Datenquelle an, die zum gleichen Zeitpunkt dieselben Ergebnisse veröffentlicht? Es verunsichert, wenn Bund und Länder verschiedene Fallzahlen ausweisen. Ist es unmöglich, auch nach Bezirk die Zahlentwicklung von Erkrankten, Genesenen und Verstorbenen mitzuteilen? Warum werden Einzeldaten für Wiener Bezirke einmal ausgewiesen und dann wieder nicht?
Der Regierung wird vorgeworfen, dass nach einem internen Besprechungspapier die Bevölkerung Angst haben sollte. Na und? Wieso gibt man das nicht zu? Die Angst vor einem tödlichen Virus ist angebracht. Es ist komm unikat ions wissenschaftlich bewiesen, dass sie zu einem achtsame ren Verhalten führt. Warum freilich wurde seitens des Kanzlers unverändert von 100.000 Toten und „Jeder wird einen Corona-Toten kennen“gesprochen, als wir das laut Datenlage zum Glück nicht mehr zu befürchten hatten? Panik statt Angst ist gefährlich.
Jeder von uns soll in einer Demokratie möglichst viele kritische Fragen stellen. Was noch wichtiger ist: Kann jeder von uns in den Spiegel schauen, im Bewusstsein, weiterhin durch Abstandhalten, Hygiene, Masken & Co. sich, seine Lieben und alle Mitmenschen zu schützen? Hoffentlich ja!