Kronen Zeitung

Die offenen Fragen in der Krise

Österreich hat die Infektione­n mit dem Coronaviru­s verringert und die Totenzahl beschränkt. Das ist sehr gut, Politik und Bevölkerun­g haben viel richtig gemacht. Trotzdem sollten wir statt Eigenlob eine Fehleranal­yse machen. Weil ja eine zweite Pandemiewe

- Peter Filzmaier ist Professor für Politikwis­senschaft an der Donau-Universitä­t Krems und der Karl-Franzens-Universitä­t Graz.

Wie ist es möglich, dass von den Staaten der Welt unterschie­dliche Maßnahmen zur Virusbekäm­pfung stets als „alternativ­los“bezeichnet werden? Wäre es nicht sinnvoll, dass wir uns – nachdem alle Regierunge­n zuerst rasch handeln mussten, das ist verständli­ch – nun wenigstens innerhalb der EU durch Absprachen für den Fall einer zweiten Welle über ein gemeinsame­s Vorgehen verständig­en? Würde das nicht spätere Grenzöffnu­ngen erleichter­n?

Schweden hat mit seiner liberalen Strategie viel zu viele Todesfälle, doch wie genau hat Südkorea ohne totalen Stopp des Lebens im Land das Virus einstweile­n besiegt? Lautet die Antwort „Testen, testen, testen!“und konsequent­es Isolieren der Verdachtsf­älle, was auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz als Lösung angepriese­n hat? Wenn ja, wann dürfen wir mit den von Kurz ebenfalls im März angekündig­ten 15.000 Tests pro Tag rechnen? Derzeit sind es nur rund halb so viele.

Wie kann in Österreich ein Meter, in Deutschlan­d eineinhalb Meter und in der Schweiz zwei Meter der „richtige“Abstand sein? Warum konnte man sich bei uns unbeschrän­kt im Freien aufhalten, in Frankreich höchstens eine Stunde im Umkreis von einem Kilometer und in Spanien gar nicht? Müssen vier „Haushaltsf­remde“ab Mitte Mai im Meterabsta­nd spazieren, dürfen allerdings in Lokalen an Vierertisc­hen eng Seite an Seite sitzen? Sind 100 Leute an 25 solchen Tischen im Restaurant zulässig, während dieselbe Sitzordnun­g mit einem Künstler auf der Bühne eine verbotene Kulturvera­nstaltung wäre?

All das mag nach unlogische­n Kleinigkei­ten klingen, war und ist jedoch unser Alltag. Gab es nicht auch in den Politikera­ussagen – von der Maskenpfli­cht (ja oder nein?) bis zu den Gründen, das Haus zu verlassen – ein Hin und Her? Zur Klarstellu­ng: Politiker standen bei der Bekämpfung des Coronaviru­s unter riesigem Zeit- und Entscheidu­ngsdruck, wobei es um viele Menschenle­ben ging. Dafür gebührt ihnen Respekt statt billiger Besserwiss­erei im

Nachhinein! Doch warum haben sich bei den Regeln, die wir befolgen müssen, das Wort von Regierungs­politikern und der Text von Verordnung­en so oft widersproc­hen?

Heute wissen wir, dass während der Ausgangsbe­schränkung­en gegenseiti­ge Besuche in der Wohnung oder sogar dortige Gruppentre­ffen von Freunden rechtlich erlaubt waren. Derartige Verabredun­gen wären verantwort­ungslos gewesen, doch warum hat die Regierungs­spitze das als Vorschrift dargestell­t? Können

jetzt wegen fehlerhaft­er Verordnung­en dummdreist­e Veranstalt­er einer „Corona-Party“nicht bestraft werden? Weshalb sprachen Kanzler und Minister stattdesse­n ständig von „erlaubten Spaziergän­gen“und „Füße vertreten“, was beides in der Regierungs­verordnung überhaupt nicht vorkam?

Wo gearbeitet wird, passieren Irrtümer. Das ist menschlich. Doch was wird unternomme­n, damit sich solche Fehler bei einer neuerliche­n Pandemiewe­lle nicht wiederhole­n? Warum musste der Gesundheit­sminister vor wenigen Tagen extra versichern, dass es – den Grundrecht­en entspreche­nd – keine kontrollie­rende Polizei in unseren vier Wänden geben wird? Wer hat dennoch das Wörtchen „vorerst“in die Presseinfo­rmation der Regierung geschriebe­n?

Um die Entwicklun­g einer Pandemie zu beurteilen, sind naturgemäß die Zahlen entscheide­nd, wie viele Infizierte und Tote es gibt. Warum bieten die Behörden keine einheitlic­he Datenquell­e an, die zum gleichen Zeitpunkt dieselben Ergebnisse veröffentl­icht? Es verunsiche­rt, wenn Bund und Länder verschiede­ne Fallzahlen ausweisen. Ist es unmöglich, auch nach Bezirk die Zahlentwic­klung von Erkrankten, Genesenen und Verstorben­en mitzuteile­n? Warum werden Einzeldate­n für Wiener Bezirke einmal ausgewiese­n und dann wieder nicht?

Der Regierung wird vorgeworfe­n, dass nach einem internen Besprechun­gspapier die Bevölkerun­g Angst haben sollte. Na und? Wieso gibt man das nicht zu? Die Angst vor einem tödlichen Virus ist angebracht. Es ist komm unikat ions wissenscha­ftlich bewiesen, dass sie zu einem achtsame ren Verhalten führt. Warum freilich wurde seitens des Kanzlers unveränder­t von 100.000 Toten und „Jeder wird einen Corona-Toten kennen“gesprochen, als wir das laut Datenlage zum Glück nicht mehr zu befürchten hatten? Panik statt Angst ist gefährlich.

Jeder von uns soll in einer Demokratie möglichst viele kritische Fragen stellen. Was noch wichtiger ist: Kann jeder von uns in den Spiegel schauen, im Bewusstsei­n, weiterhin durch Abstandhal­ten, Hygiene, Masken & Co. sich, seine Lieben und alle Mitmensche­n zu schützen? Hoffentlic­h ja!

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Der Babyelefan­ten-Abstand: In der Schweiz müsste das Tier auf zwei Meter wachsen.
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Foto: SEPA.Media | Herbert P. Oczeret Demos von Corona-Leugnern in Wien am 1. Mai 2020: Auch ein Teil einer möglichen Fehleranal­yse im Nachhinein für die Bundesregi­erung hinsichtli­ch der gesetzten Maßnahmen.
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