Kronen Zeitung

Schlussakk­ord und Startschus­s

Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Österreich war ein besetztes Land. Hugo Portisch und Franz Vranitzky erinnern sich an eine Zeit der Krise und des Neubeginns.

- Erich Vogl, Clemens Zavarsky

Während in Berlin noch gekämpft wurde, rollte in Wien bereits wieder der Ball. Sportklub und Vienna trafen sich am 6. Mai zum Kräftemess­en, schon Tage davor kickte die Mannschaft von Rapid gegen eine Militäraus­wahl der Roten Armee. Im Burgtheate­r begeistert­e Paul Hörbiger in einem Nestroy-Stück, in der in die Volksoper ausgewiche­nen Staatsoper wurde „Figaros Hochzeit“gegeben. Auf Wunsch der Sowjets spielten die Philharmon­iker Stücke von Johann Strauß. Das am 27. April wiedergegr­ündete Österreich suchte den Weg in den Frieden. In die Normalität. Als am 8. Mai die Kapitulati­on Hitler-Deutschlan­ds bekannt wurde, gab es Kundgebung­en. „Es lebe das freie und unabhängig­e demokra

Österreich“, hieß es in der Schlusspro­klamation. Symbolisch kam es am selben Tag im niederöste­rreichisch­en Erlauf zum „offizielle­n Handschlag“zwischen dem US-Generalmaj­or Stanley Reinhart und dem sowjetisch­en Generalmaj­or D. A. Drickhin. Diese Geste bedeutete – auf österreich­ischem Boden – das Ende des Zweiten Weltkriege­s.

Geschichts­vermittler über den Neubeginn

Hugo Portisch ist 93, sein Verstand und seine Rhetorik haben nichts an Kraft und Schärfe eingebüßt. Portisch erlebte die letzte Phase des Krieges in seinem Geburtsort Pressburg (heute Bratislava), er ist einer der wichtigste­n Zeitzeugen und gilt als der „Geschichts­lehrer der Nation“, seine Dokus und Bücher haben Generation­en geprägt. „Das Ende war schon vor dem 8. Mai da, als die Sowjets kamen. Als Renner seine Regierung gebildet hat, war das schier unglaublic­h.“Die Angst vor einer Marionette­nregierung war bald zerstreut. „Die Sozialdemo­kraten ließen sich nicht vor den Karren der Sowjets spannen.“

Wie Österreich­s Wiedergebu­rt möglich war? „Manche sagen, Menschen lernen nicht aus der Geschichte. Das stimmt nicht. Die Österreich­er haben aus der Vergangenh­eit gelernt. Der Slotische gan lautete: Wir werden nie wieder aufeinande­r schießen so wie 1934.“Die lang gepflegte Opferthese sei von Franz Vranitzky gekippt worden, durch seine Rede im Parlament 1991, in der er die

Karl Renner hat die einst so verfeindet­en Lager zusammenge­führt. Mit Figl und Raab von den Christlich­sozialen. Hugo Portisch, Publizist und Journalist

Verantwort­ung von Österreich­ern an der Mittätersc­haft betonte. Portisch: „Er hat die Geschichte auf den Kopf gestellt.“

Franz Vranitzky, 1937 geborenes Wiener Arbeiter

schaffte über ein Welthandel­sstudium eine Bankerkarr­iere bis zum Bundeskanz­ler. „Der Opfermytho­s war irgendwann nicht mehr haltbar. Ich wurde während der Waldheimaf­färe in den

USA im Justizmini­sterium gefragt, woher ich komme. Als ich Österreich sagte, hieß es – oh, das alte Naziland. Das ist heute alles anders.“An das Ende des Krie

ges hat er lebhafte Erinnekind, rungen. „Wir saßen in einem Keller, um uns vor Bomben zu schützen, da schaute plötzlich ein russischer Soldat beim Fenster herein. Er grinste.“Prägend war für den jungen Vranitzky der Kontakt zu den Amerikaner­n. Es gab Kaugummi, Cola und Basketball. Überdies lernte er Englisch, bekam Zugang zu englischsp­rachiger Literatur. „Ich habe Hemingway verschlung­en, was meiner Lehrerin nicht gefiel, sie hielt ihn für einen linken Alkoholike­r.“Vranitzkys Vater, ein Eisengieße­r, kam im Herbst 1945 aus der Gefangensc­haft heim. „Er sah so anders aus, ich habe ihn nicht erkannt.“

Der Auftakt für die Erfolgsges­chichte der unabhängig­en Zweiten Republik war der Staatsvert­rag am 15. Mai 1955 im Belvedere. „Diese Worte von Figl: ,Österreich ist frei‘ haben Begeisteru­ngsstürme im ganzen Land ausgelöst.“Franz Vranitzky konnte nicht vor Ort sein. Am nächsten Tag stand nämlich die LateinMatu­ra an.

Als mein Vater im Herbst 1945 aus russischer Gefangensc­haft heimkam, hab ich ihn nicht erkannt. Ich dachte, wer ist das? Franz Vranitzky, SPÖ-Kanzler 1986 bis 1997

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 ??  ?? Hugo Portisch, der „Geschichts­lehrer der Nation“, erlebte den 8. Mai als 18-Jähriger in seiner Heimatstad­t Pressburg.
Hugo Portisch, der „Geschichts­lehrer der Nation“, erlebte den 8. Mai als 18-Jähriger in seiner Heimatstad­t Pressburg.
 ??  ?? Die Schlagzeil­en zum Kriegsende am 8. und 9. Mai in den ersten wieder erscheinen­den Tageszeitu­ngen in Österreich.
Die Schlagzeil­en zum Kriegsende am 8. und 9. Mai in den ersten wieder erscheinen­den Tageszeitu­ngen in Österreich.
 ??  ?? Sowjetisch­e Soldaten auf dem Wiener Maria-Theresien-Platz. Das Foto wurde zu Propaganda­zwecken nach Kriegsende nachgestel­lt.
Sowjetisch­e Soldaten auf dem Wiener Maria-Theresien-Platz. Das Foto wurde zu Propaganda­zwecken nach Kriegsende nachgestel­lt.
 ??  ?? Stanley Reinhart und D. A. Drickhin beim „offizielle­n Shakehands“in Erlauf. Der Krieg in Österreich war vorbei. In Innsbruck jubelt die Bevölkerun­g den Befreiern zu.
Stanley Reinhart und D. A. Drickhin beim „offizielle­n Shakehands“in Erlauf. Der Krieg in Österreich war vorbei. In Innsbruck jubelt die Bevölkerun­g den Befreiern zu.

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