Die wahre Brutalität
Der Kabarettist Helmut Qualtinger sagte 1956, Simmering gegen Kapfenberg wäre Brutalität. Derzeit führen sich die Bundespartei der ÖVP und die Wiener SPÖ auf, als wäre der Bürgerkrieg der Parteilager im Februar 1934 erst ein paar Tage her. Warum aber der dramatische Vergleich? Weil es um eine lebensgefährliche Pandemie geht und nicht nur ein Fußballspiel.
Am 11. Oktober findet die Wiener Gemeinderatswahl statt. So lässt sich das Hickhack um die Coronapolitik zwischen ÖVP und SPÖ in der türkis geführten Bundesregierung und der „roten Bundeshauptstadt“in einem Satz erklären. Das Match von Bund und Bundesland oder eben Wien gegen die Bundesregierung hat in Österreich Tradition. In allen Ländern ist die Verlockung groß, den Wahlkampf „gegen Kanzler und Minister da oben“zu führen.
Zumal dieses Spiel für Landeshauptleute und Bürgermeister ein aufgelegter Elfmeter ist. Es vertrauen viel mehr Menschen der Politik in ihrem Bundesland oder ihrer Gemeinde und – so der Demokratieradar der Universitäten Krems und Graz 2019 – nur 10 bis 15 Prozent am allermeisten der Bundespolitik. Da bleibt einzig die Frage offen, warum die Bundespartei der ÖVP sozusagen ein Auswärtsspiel mitmacht, wenn das Wiener Stadion der Heimmannschaft SPÖ von den Vertrauenswerten her eine schiefe Ebene zu ihren Ungunsten darstellt.
Weil die ÖVP in Wien, ausgehend vom letzten Wahlergebnis – das waren 2015 jämmerliche 9,2 Prozent der Stimmen –, nur gewinnen kann. Zudem hat man als in Wien lebende Spieler, die überhaupt irgendwer kennt, nur Bundespolitiker zur Verfügung: Bundeskanzler Sebastian Kurz und als Spitzenkandidat für die Gemeinderatswahl Finanzminister Gernot Blümel.
Kennen Sie Markus Wölbitsch? Nein? In der Millionenshow würden vermutlich 90 bis 99 Prozent an dieser Quizfrage scheitern. Der Herr ist „nicht amtsführender Stadtrat“der ÖVP in Wien. Das bedeutet, dass sich seine Kompetenzen ohne Geschäftsbereich auf Schreibtisch und Türschild beschränken. Mit einem unbekannten Unterligakicker zieht man nicht in eine Meisterschaft vulgo Wahlkampf, folgerichtig müssen Kurz und Blümel mitspielen.
Die haben mit dem Hauptspieler der SPÖ, Bürgermeister Michael Ludwig, die Gemeinsamkeit, sich nicht ihre Wahlkampfhände schmutzig machen zu wollen. Bloß kein leichtfertiges Handspiel! Also werden die Spielregeln geändert und die Sache als Stellvertreterkrieg ausgetragen. Für die ÖVP schimpft Karl Nehammer auf Wiener Politiker der SPÖ, was das Zeug hält.
Der Innenminister ist Bezirksobmann der ÖVP in Hietzing, wurde jedoch politisch in der Volkspartei Niederösterreich groß. Da Nehammer zudem Minister bleiben will, möchte er auch gar nicht in den Wiener Gemeinderat einziehen. Also kann er vor der Wahl fuhrwerken, ohne etwas zu riskieren. Nehammer ist egal, wenn er in Wien unbeliebt ist. Er versucht daher medienwirksam für Kurz und Blümel als Vorstopper
den Mann fürs Grobe zu spielen, der den gegnerischen Mittelstürmer auf die harte Tour abmontieren soll.
Bürgermeister Ludwig aber stellt sich selten frühzeitig in den gegnerischen Strafraum. Stattdessen nennt Gesundheitsstadtrat Peter Hacker Minister Nehammer einen Verbreiter falscher Gerüchte, so dass es nach Lügner klingt. Obwohl Co-Kapitän Hacker selbst gesagt hat, dass bei einer Pandemie in der Krisenkommunikation nicht die Kapitäne auf der Brücke streiten dürften. Jetzt suhlen sich Nehammer
und er als Streithanseln im Schlamm des Vorwahlkampfs. Das mühsam aufgebaute Vertrauen in politische Maßnahmen zur Virusbekämpfung begraben beide zusammen unter einer Schmutzschicht.
Würden Sie übrigens beim Fußball ein 0:2 Österreichs bejubeln, weil Italien und Spanien in ein 0:10Debakel stolpern? Oder sich besonders ärgern, weil von Norwegen bis zu den Nachbarländern Slowakei, Slowenien und Ungarn jede Menge europäische Länder lediglich 0:1 verlieren? Die Ergebnisbeispiele
zeigen, wie unser Land bei mehr oder weniger Coronafällen vergleichsweise besser oder schlechter liegt. Doch ist das in der politischen (Partei-)Kommunikation ein unsinniger Wettbewerb. Jeder Kranke und Tote, das ist einer zu viel.
Was hilft es, wenn ein österreichisches Bundesland mehr Infizierte als notwendig hat und es in Wien noch mehr sind? Sagt man von Mattersburg bis Altach, bei den Krebskranken oder Verkehrstoten sei alles gut, weil die Stadt von Rapid und Austria eh mehr
Leichen hat? Außerdem verstehen sogar medizinische Laien, dass es in einer Millionenstadt mehr Ansteckungsgefahren gibt.
Die Tragödie am Fußballvergleich ist aber, dass die im ländlichen Raum besonders erfolgreiche ÖVP und die in den Städten ihre letzte Bastion habende SPÖ manchmal gar nicht auf dem gleichen Spielfeld herumtreten. Weil sie in Parallelwelten ohne Bezug zueinander leben. So wie sich Stadt- und Landbewohner im Kopf immer weiter entfernen. Das nützen die Parteien aus.