Countdown im Nahen Osten
Spannung steigt vor Ausweitung des israelischen Staatsgebietes Koalitionspartner Gantz will Premier Netanyahu noch einbremsen
ImJuli wollte Premier Netanyahu laut Wahlversprechen seine konkreten Absichten zur Ausweitung des israelischen Staatsgebietes im palästinensischen Westjordanland vorlegen. Welche Folgen könnte das für die Region haben?
Netanyahu möchte auf Grundlage des im Januar veröffentlichten Nahost-Plans von US-Präsident Trump bis zu 30 Prozent des Westjordanlands dem israelischen Staatsgebiet einverleiben (annektieren). Er rechtfertigt die Annexion mit biblischen, historischen und sicherheitspolitischen Gründen.
Was bedeutet diese seit Jahrzehnten größte Umgestaltung der nahöstlichen Landkarte mit welchen Folgen?
Wachsender Druck der israelischen Siedler
„Israel hätte das ganze Territorium schon direkt nach der Eroberung im Krieg von 1967 annektieren müssen“, meint Jossi Dagan, Chef des Siedlerrats im nördlichen Westjordanland. „Aber besser 53 Jahre zu spät als nie.“Das ganze Judäa und Samaria müsste Teil Israels werden, „wie es mit den Golanhöhen und Jerusalem schon geschehen war“.
Die Zahl der israelischen Siedler ist nach zwei Generationen auf über 600.000 gewachsen, davon etwa 200.000 in Ostjerusalem. Israel sieht in seiner Siedlungspolitik anders als die EU keinen Rechtsbruch.
Wie reagieren Ägypten und Jordanien?
Ägypten und Jordanien sind die einzigen arabischen (Nachbar-)Staaten, die mit Israel einen Friedensvertrag abgeschlossen haben. Es ist ein „kalter Frieden“. Droht jetzt die totale Eiszeit?
Jordanien hat sich immer wieder vehement gegen die israelischen Pläne ausgesprochen. Es gibt Warnungen, sie könnten nun den wichtigen Sicherheitsbeziehungen beider Seiten schwer schaden.
Bei einem Blitzbesuch bei der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah bezeichnete Jordaniens Außenminister Safadi eine Annexion als „nie da gewesene Bedrohung des Friedensprozesses“zwischen Israel und den Palästinensern. Ein solcher Schritt werde jede Möglichkeit für eine ZweiStaaten-Lösung zerstören „und alle Völker der Region daran hindern, in Frieden, in Sicherheit und in Stabilität zu leben“. Israel würde damit zeigen, dass es Konflikt einer Friedenslösung vorziehe, „und die Konsequenzen tragen“, sagte er in einer kaum verhüllten Drohung.
Gefahr für Jordanien als die „Insel des Friedens“
Jordanien hat eine komplizierte Bevölkerungsstruktur: Etwa zwei Drittel sind Palästinenser; die meisten mit verwandtschaftlichen Beziehungen zum Westjordanland aus mehreren Fluchtwellen.
Das Königreich Jordanien der Haschemiten-Dynastie ist bisher dank der ausgleichenden Politik seiner Herrscher eine Insel des Friedens im Nahen Osten. Es ist auch die ruhigste Grenze Israels. Allerdings gibt es nicht wenige Israelis, die der Meinung sind, die Palästinenser in den besetzten Gebieten bräuchten keinen eigenen Staat, da der eigentliche Palästinenserstaat Jordanien sei.
Warum drängt Premier Netanyahu gerade jetzt?
Experten meinen, der 70jährige Regierungschef sehe den Schritt als wichtigen Teil
seines politischen Vermächtnisses und als Gelegenheit, in Israels Geschichte einzugehen. Auch angesichts seines Korruptionsprozesses drängt er auf Tempo.
In Israel herrscht ein breiter Konsens hinsichtlich der Gebiete, die annektiert werden könnten. Selbst Jitzchak Rabin, der 1995 ermordete Architekt der Osloer Friedensverträge mit den Palästinensern, vertrat die Ansicht, dass die Siedlungsblöcke im Rahmen einer dauerhaften Friedensregelung ein Teil von Israel bleiben sollten. Und auch er bestand auf einer fortwährenden SicherheitsPräsenz Israels an der Grenze zu Jordanien.
Ein weiterer Grund für das Eiltempo sind die US-Wahlen im November. Im Gegensatz zu Trump hat sich dessen Rivale Joe Biden gegen die Annexion ausgesprochen. Je tiefer die Umfragen für Trump sinken, desto eiliger hat es Netanyahu: jetzt oder nie!
Gewinner wären Iran und Hamas
Doch in Israel mehren sich die warnenden Stimmen. Der Sicherheitsexperte
Amos Gilad sagt, die Annexion wäre „ein Desaster für unsere nationale Sicherheit“. Der Schritt könne den Beziehungen zu den arabischen Staaten schwer schaden und die wichtige gemeinsame Front gegen den Erzfeind Iran aufbrechen, warnt der frühere Leiter der Abteilung für politisch-militärische Angelegenheiten im israelischen Verteidigungsministerium. „Die arabischen Staaten sind unsere strategischen Partner geworden. Warum müssen wir sie verärgern?“
Alternde PLO-Führer an die Wand gespielt
Eine Annexion könne auch der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas in die Hände spielen, sagt Gilad. Während Palästinenserpräsident Mahmud Abbas Terror ablehne, vertrete die Hamas das Prinzip: „Wir wissen besser, wie man mit Israel umgehen muss, nur mit Terror und Gewalt.“Eine Annexion bedeute das Scheitern von Abbas’ Weg, „und das würde bedeuten, die Alternative ist Gewalt“.
Die palästinensische Autonomiebehörde des im jahrelangen Amt gealterten
PLO-Chefs Abbas lehnt Verhandlungen mit Israel unter dem Druck des Trump-Plans ab. Die Nachfolger Arafats sind durch Netanyahus trickreiche Politik völlig in die Defensive geraten. Zumal Saudi-Arabien und die GolfEmirate zu einem Ausgleich mit Israel bereit sind, weil sie ihre Hauptgefahr im Iran, in der Hamas und den Moslemsbrüdern sehen.
Das Jordantal bald palästinenserfrei?
Das Jordantal wäre die erste Stufe der Annexion. Es ist schon jetzt das Gebiet C im Westjordanland, das heißt: direktes Militärgebiet.
Amit Gilutz von der israelischen Menschenrechtsbewegung Betselem meint dazu, Israel versuche schon seit Langem, die Palästinenser im Jordantal dazu zu bringen, das Gebiet zu verlassen. Es wolle sich so viel wie möglich der sogenannten C-Gebiete unter israelischer Kontrolle im Westjordanland einverleiben, mit möglichst wenig palästinensischer Bevölkerung. Laut seiner Organisation leben im Jordantal rund 13.000 Israelis in mehreren Dutzend Siedlungen.