Der Streik, der die Welt veränderte
„KRONE“-REDAKTEUR KURT SEINITZ WAR DAMALS AUGENZEUGE IN DER STREIKENDEN WERFT
Warum damals das kommunistische Regime Polens tatenlos zusah Warum diesmal sowjetische Truppen nicht einmarschiert waren Der Weg von Lech Wałęsa1980 bis zu Michail Gorbatschow 1990 Das spannende Jahrzehnt der historischen Umbrüche im Osten Ohne Arbeiterrevolte in Polen kein Mauerfall in Berlin 1989 Ein Blick hinter die politischen Kulissen von Macht und Ohnmacht
Der „Held von Danzig“kam mit der Straßenbahn zur Revolution. Dann löste er ein Erdbeben aus, das eine waffenstarrende Weltmacht erschütterte, bis es ein Jahrzehnt später diese Sowjetunion nicht mehr gab.
Dies ist die Augenzeugengeschichte eines spannenden Jahrzehnts, welches (fast) unblutig die Welt verändert hat. So ein Glücksfall der Geschichte sollte sich nicht mehr wiederholen.
Ein Glücksfall (oder Schicksal?) war es auch, ein Augenzeuge zu sein. Das fing schon ganz banal mit dem Weg in das abgeriegelte Danzig und von dort in die verbarrikadierte Leninwerft an.
Ich flog am 15. August Hals über Kopf nach Polen, als man von „gewissen Vorkommnissen“in Danzig hörte. (Nachrichten, heute im Minutentakt, dauerten damals oft Tage, bis sie durch den Eisernen Vorhang drangen.) Ein politisches Gewitter war ja schon in der Luft gelegen, als es im Juli wegen krasser Versorgungsmängel in Polen zu Unruhen kam.
Der schnelle Entschluss zum Aufbruch nach Polen war möglich infolge einer damals im Ostblock einzigartigen Visafreiheit zwischen beiden Staaten. Das hatte die polnische Regierung in den Siebzigerjahren als ihre europäische Entspannungsgeste angeregt und vom
„Großen Bruder“in Moskau gebilligt bekommen, denn Polen hatte damals keine NATO-Grenze.
Ebenso war zwischen den beiden Regierungen der Austausch je eines Journalisten
(so restriktiv war das damals!) vereinbart worden. Ich wurde von österreichischer Seite nominiert (und vermute dahinter Kreisky). Die polnische Seite nominierte Mieczysław Rakow
ski, den Chefredakteur der reformkommunistischen Wochenzeitung „Polityka“und später letzter Ministerpräsident des kommunistischen Polen.
Bei meiner Reise durch
Polen war ich 1976 auch von Warschau nach Danzig geflogen und hatte die Leninwerft kennengelernt. Sie war der Stolz des KP-Staates und ihre Belegschaft die Elite der Arbeiterklasse, galt aber schon in dieser Zeit als „widerspenstig“.
Am Nachmittag jenes 15. August 1980 wieder einmal in Warschau, erkundige ich mich gleich nach der Landung nur routinemäßig und ein negative Antwort erwartend, ob es Flüge nach Danzig gebe. Hatte es doch in den Nachrichten geheißen, dass alle Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen von und nach Danzig blockiert seien.
Zu meiner größten Überraschung lautete die Antwort: „Nächster Abflug 16 Uhr.“Und das Flugzeug war dann halb leer!
So unbekannt blieb diese Flugverbindung auch in den folgenden zwei Wochen, als ich jeden dritten Tag nach Warschau flog, wo ich nachts die Berichte nach Wien durchtelefonierte (bewaffnet mit dem für Ostblockstaaten essenziellen Fingerhut wegen des stundenlangen Drehens der Wählscheibe).
Niemals habe ich später das Geheimnis lüften können, weshalb diese Flugverbindung nicht unterbrochen wurde. War es eine bürokratische Panne, war es eine Art von Sabotage innerhalb des Regimes?
Vor der Leninwerft angekommen, stand ich vorerst einmal vor einem verschlossenen Tor. Die Streikwache ließ niemanden hinein. Die Werftarbeiter hatten sich verbarrikadiert.
Das war die Reaktion auf den ersten Streik von 1970, als die Werftarbeiter vor die Parteizentrale zogen – und dort blutig zusammengeschossen wurden. (Das heutige Kreuz-Denkmal vor der Werft gilt den Opfern von 1970.)
Der erste Sargnagel im Sowjetimperium
Jetzt lautete die Parole: Besetzungsstreik. Die Arbeiter igelten sich ein.
Journalistisches Beharrungsvermögen und die wiederholte Forderung, einen Verantwortlichen zu holen, sorgten schließlich für eine spektakuläre Wende. Es kam eine kleine Frau, die bald einen großen Namen haben wird: die Kranführerin Anna Walentynowicz. Sie maß mich von Kopf bis Fuß, dachte kurz nach und witterte die Chance für eine Berichterstattung ins Ausland: „Hereinlassen!“, befahl sie forsch der Streikwache.
Die Entlassung der aufmüpfigen Kranführerin hatte den Streik ausgelöst. Stunden später sprang der wegen des Streiks von 1970 zwangsarbeitslose WerftElektriker Wałęsa über den Zaun. Beider bittere Rivalität wurde später legendär.
Während der Landeanflüge auf Danzig konnte ich die Konzentration der ZOMOEinsatzmiliz des Regimes in den schütteren Wäldern rund um die belagerte Stadt sehen. Das KP-Regime hatte also alle Eventualitäten einkalkuliert.
Weshalb war das Regime aber statt einzugreifen schließlich mit der Zulassung der Unabhängigen Gewerkschaft Solidarność in die Knie gegangen?
Weshalb hatte Moskau das zugelassen? Lesen Sie am Montag: Johannes Paul II., König von Polen