Auf dem Weg zum Sieg
Lech Wałęsa ringt dem KP-Regime Zugeständnisse ab Grünes Licht zur Geburt der unabhängigen Gewerkschaft Erste Anzeichen von Richtungsstreit über Zukunft Polens
Während der zwei Streikwochen war auf der Danziger Schiffswerft nicht alles rund gelaufen. Wäre es nach Lech Wałęsa gegangen, wäre der Streik schon am 3. Tag zu Ende gegangen.
Der Direktor der Werft hatte alle Forderungen akzeptiert, die sich damals noch auf soziale Belange beschränkten. Lech Wałęsa erfüllte im Gegenzug die Bedingung: „Ich erkläre den Streik für beendet.“
Da fuhren ihm aber die Delegierten aus den Betrieben energisch dazwischen, allen voran seine Rivalin Anna Walentynowicz. Protestrufe: „Leszek, du hast uns verkauft!“
Der schlaue Leszek kratzte sofort die Kurve, indem er „zur Klärung“einen Regierungsvertreter aus Warschau anforderte. Doch die ersten Streikkollegen, meist die älteren, verließen schon die Werft. Sie wollten zum Wochenende bei den Familien sein.
So wurde aus der Bewegung ein „Streik der Zwanzigjährigen“, ein harter Kern von bloß 500, der blieb, auch als sich das Gerücht verbreitete, dass in der kommenden Nacht ein Angriff der Einsatzkräfte des Regimes erfolge.
Die Streikbewegung von Danzig erlebte also am Ende des dritten Tages einen Schwächeanfall. Doch auch das Regime hatte die Rechnung ohne den Wirt gedenn unterdessen streikten bereits Betriebe der ganzen Region und bald des ganzen Landes. Ein Steppenbrand breitete sich aus.
Stimmungswechsel am nächsten Tag, dem Sonntag. Als der nächtliche Angriff der Regime-Miliz ausgeblieben war, kamen auch jene Kollegen, die gegangen waren, zurück.
Jetzt war der Weg zum
Sieg nicht mehr aufzuhalten. Die folgenden nikotinschwangeren Tage und Nächte (Alkoholverbot auf der Werft) waren angefüllt mit zähen Verhandlungen – und Streit; Streit zwischen Streikkomitee und Regierungsdelegation, aber auch innerhalb der Streikbewegung.
Es zeichnete sich jener Richtungsstreit ab, der spämacht,
dann zur Spaltung, ja zum Zerfall der Solidarność führen wird: zwischen dem pragmatischen Flügel unter Lech Wałęsa – vormals zeitweilig und nach eigenen Aussagen dazu erpresster Polizeispitzel, Deckname „Bolek“– und dem radikalen, betont antikommunistischen und antirussischen Flügel unter den Kaczyński-Zwillingen, den Gründern der
PiS-Partei, die heute Polen regiert.
„Ein Betverein ist keine Gewerkschaft!“
Vorerst noch gab es Grund zum vereinten Jubel, als am 31. August Wałęsa und Vizepremier Jagielski die Vereinbarung von Danzig unterzeichneten. Polen bekam als erstes Ostblockland eine „selbstverwaltete“Gewerkter schaft – (das Regime hatte sich bis zuletzt gegen die Formulierung „freie“gestemmt) –, was natürlich nichts anderes war als eine politische Partei. Politische Gefangene wurden entlassen, freie Meinungsäußerung erlaubt.
Groteske am Rande: Während das KP-Regime die Gewerkschaft anerkannte, wetterte ein Redakteur des damaligen SPÖ-Zentralorgans
„Arbeiterzeitung“angesichts der vielen Papst- und Marienbilder auf den Fotos: „Ein Betverein ist keine Gewerkschaft!“
KP-Betonköpfe rüsten zum Gegenschlag
So dachten auch die Betonköpfe im Regime. Für sie war die „Kapitulation“nur als Atempause gedacht, um die Macht neu zu konsolidieren.
Das folgende erste Jahr der Solidarność war zwar eines mit relativer Freiheit in Polen, aber mit sich dramatisch verschlechternder Versorgungslage. Das Wirtschaftssystem hatte sich ja nicht geändert. Es war aber auch Sabotage des Regimes dabei, um die öffentliche Stimmung reif zu machen für den großen Gegenschlag des Regimes: das Kriegsrecht im Dezember 1981.
Nichtsdestotrotz: Diese Legalisierung der Solidarność hatte eine Bresche in die Mauer des Ostblocks geschlagen, die nie mehr geschlossen werden konnte. Morgen lesen Sie:
Polens Botschafterin als Zeitzeugin in der Werft