„Ich wollte Zeuge sein“
Polens derzeitige Botschafterin in Österreich war damals 1980 als 23-jähriges Mädchen zum Streikführer Lech Wałęsa in die Werft geeilt.
Polens Botschafterin Jolanta Róża Kozłowska stammt aus einer Familie politisch Verfolgter durch das kommunistische Regime in Polen. Ihr Vater saß im Streikjahr 1980 im Gefängnis. Sie selbst hatte Studienverbot. Für die „Kronen Zeitung“schrieb sie jetzt ihre Erinnerungen an den August 1980 nieder.
Den Sommer 1980 verbrachte ich in einem kleinen Dorf zwischen Lublin und Krakau. Die Zeit war von Anspannung und Angst geprägt. Die einzige Informationsquelle war praktisch das Radio Freies Europa aus München, aus der ich erfuhr, dass Mitte August in der Danziger Werft die Arbeit niedergelegt wurde.
Wenige Tage später präsentierte Radio Freies Europa die von den Werftarbeitern aufgestellten 21 Forderungen. Der vierte Punkt beinhaltete die Forderung, die Studenten, die wegen ihrer Überzeugungen von der Universität verwiesen wurden, wieder aufzunehmen: Das heißt, die Werftarbeiter kämpften für Rechte von solchen Personen wie mir! 1978 war ich mit einem Studienverbot von der Universität verwiesen worden.
Mir stockte der Atem: Der Name meines Vaters!
Das war jedoch nicht alles: Im gleichen Punkt der Streikforderungen gab es auch eine Forderung nach Freilassung aller politischen Gefangenen ... und hier wurden drei Namen genannt, darunter der meines Vaters Jan Kozłowski! Mein Vater war damals seit fast einem Jahr politischer Gefangener; nach einem Scheinprozess mit einer dreijährigen Haftstrafe belegt.
Ich beschloss, so rasch wie möglich nach Danzig zu fahren, denn ich war von einem Gefühl der Dankbarkeit erfüllt. Meine Mutter versuchte mich von diesem Plan abzubringen, aber ohne Erfolg. Sie gab auf, als ich ihr anbot, meine jüngere Schwester Krysia mitzunehmen. Ich hatte Mama versichert, dass ich doch nicht verhaftet werden würde, wenn ich ein 14jähriges Mädchen in meiner Obhut hätte.
Krysia und ich waren am 21. August am Haupttor zur Werft angelangt. Vor dem mächtigen Eisentor wimmelte es von Menschen. In der Mitte des Tores befand sich ein Porträt von Johannes Paul II. Über dem Tor wurden die zwei Tafeln angebracht, auf denen alle 21 Postulate mit einem Zimmermannsbleistift geschrieben waren, in Punkt 4 der Name meines Vaters! Mir stockte der Atem.
Wir erreichten das Gebäude auf dem Werftgelände, in dem die Gespräche stattfanden. Dort traf ich zum ersten Mal auf Personen, die später in Polen und im Ausland berühmt wurden.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass es naiv war, den Aufenthalt in Danzig als Tagesausflug zu planen. Ehrlich gesagt, ich war froh, dass ich bleiben durfte. Ich war gespannt, was passieren würde.
Mir war völlig bewusst, dass ich mich an einem besonderen Ort befand und an einem historischen Ereignis teilnahm. Für mich und meine Schwester wurden Schlafplätze im Büro der Gewerbepolizei vorbereitet . . . und zwar auf den Tischen, denn es gab nur sie als freie Plätze. Wir haben zwei Decken bekommen, um es uns ein wenig gemütlich dort zu machen.
Regime musste sich Öffentlichkeit stellen
Am 21. August kam zum ersten Mal eine Regierungsdelegation aus Warschau unter der Leitung von VizePremier Mieczysław Jagielski nach Danzig. Man traf sich in dem so genannten kleinen Raum, wo ich in den folgenden Tagen das Glück hatte, mehrmals als Augenzeuge der laufenden Verhandlungen anwesend zu sein. Die Lautsprecher des Betriebsradios wurden in der gesamten Werft aufgestellt, so dass alle Streikenden, mehrere tausend Menschen, hören konnten, was geschieht. Es war außergewöhnlich: Alles wurde veröffentlicht! Es war kein geheimes Treffen. Jeder konnte die Gespräche des Streikkomitees mitverfolgen.
Neben den Arbeitern gab es auch bekannte Intellektuelle. Ich erinnere mich, dass ich Tadeusz Mazowiecki oder Professor Geremek begrüßte. Viele berühmte Persönlichkeiten kamen als Experten: Es war sehr wichtig.
Der Streik wurde hauptsächlich von Arbeitern geführt, aber sie brauchten Unterstützung, um sich nicht vom Regime über den Tisch ziehen zu lassen. Es war der erste Streik, der alle gesellschaftlichen Gruppen zusammenbrachte.
Der Streik zielte zunächst darauf ab, die Forderungen der Werft zu erfüllen. Aber diese vereinten Kräfte entschieden, dass diese Forderungen für das ganze Land gelten sollten. Sie verhandelten akribisch einen Punkt nach dem anderen, buchstäblich jedes Wort. Die Regierungskommission verteidigte sich und versuchte die Forderungen abzulehnen. Deshalb wurden in diesen Verhandlungen konkrete Fälle von Schikanen durch den Staat – wie zum Beispiel an mir – enorm wichtig.
Außergewöhnlich: Es gab keine Aggression
Was außerordentlich war: Es gab keine Aggression zwischen den beiden Seiten. Als Jagielski ankam, bildete sich eine Spalier, die Menschen waren vor Neugierde überfüllt, aber es gab weder Pfiffe noch Getuschel, niemand wollte ihn angreifen, alle warteten schweigend auf seinen Auftritt. Jagielski kam und ging Tag für Tag.
Sie dachten wahrscheinlich, es würde höchstens zwei, drei Tage dauern, aber die Verhandlungen dauerten bis zum 31. August. Jagielski sprach Wałęsa mit „Herr Vorsitzender“an, nicht mit Genosse oder Bürger, wie es damals für Parteiaktivisten üblich war.
Ich blieb in der Werft bis zum Ende. Am späten Nachmittag des 31. August, als das Abkommen unterzeichnet wurde, saß ich buchstäblich direkt davor, gegenüber dem Anwalt Władysław SiłaNowicki, dem Verteidiger meines Vaters in seinem Prozess.
Würde die Regierung doch noch kneifen?
Als bekannt wurde, dass die Verhandlungen abgeschlossen waren und eine feierliche Unterzeichnung stattfinden würde, kamen dorthin Menschen aus ganz Polen zusammen. Ich erinnere mich an diese große Anspannung, ob die Regierungsseite tatsächlich eintreffen würde. Wir wussten bis zum Schluss nicht: Werden sie kommen? Oder vielleicht kneifen?
Die Parteiführung in Warschau hatte sich in dieser Zeit verändert. Gierek und Jaroszewicz waren nicht mehr da. Hoffnung und Euphorie waren bis zum Ende von Misstrauen begleitet. In dieser Nacht hat kaum wer geschlafen.
Dieser Tag ist gekommen! Es war Sonntag. Während der Feldmesse, an der mehrere tausend Menschen teilnahmen, herrschte eine festliche Stimmung. Und dann kam der Moment, in dem Wałęsa verkündete: Wir haben endlich unabhängige, selbstverwaltete Gewerkschaften! Es war ein historischer Erfolg. Und mein persönlicher Erfolg war meine Chance für die Wiederaufnahme des Studiums und Rückkehr meines Vaters nach Hause. Aus dem Gefängnis wurde er einige Tage später entlassen.