Von Wałęsa zu Gorbatschow
Polen erfand 1989 wieder was Neues: den politischen „Runden Tisch“ Danach gab es die ersten freien Wahlen im sowjetischen Ostblock Wende in Polen war Vorbild für friedliche Machtwechsel in Osteuropa
Als Michail Gorbatschow 1985 als Jüngster im Politbüro der KPdSU die alten Männer im Kreml beerbt hatte, war er es noch ganz scharf angegangen. Der erste seiner legendären Slogans war nicht Glasnost (Umbau) oder Perestrojka (Offenheit) gewesen, sondern der StalinSlogan Uskorenje: Beschleunigung!
Als sich jedoch weiterhin nichts rührte, denn das Riesenreich lag in tiefer Stagnation, zeigte sich spätestens seit dem Tschernobyl-Desaster Gorbatschows intellektuelle Fähigkeit zum radikalen Kurswechsel. Und das erste „Bruderland“, das die Gelegenheit beim Schopf packte, war Polen.
Kontakte des Regimes in Warschau mit der (verbotenen!) Solidarność bahnten sich an, vermittelt von Vertretern der katholischen Kirche. Am 31. August 1988, als an diesem 8. Jahrestag der Vereinbarungen von Danzig eine neue Streikwelle drohte, kam es zum ersten Treffen „auf Augenhöhe“zwischen Lech Wałęsa und KP-Innenminister Kiszczak, der ihn seinerzeit ins Gefängnis gesteckt hatte.
Solidarność tritt eine Kettenreaktion los
Es gab kein Halten mehr. Am 6. Februar 1989 fand das erste Zusammentreffen aller gesellschaftlichen Gruppen an einem „Runden Tisch“statt. Die Beschlüsse nach vielen Verhandlungsrunden gipfelten in einer neuen Pionierrolle Polens: den ersten freien Wahlen im sowjetischen Machtbereich im Juni 1989. Die Solidarność errang 99 von 100 Sitzen im Senat.
(Einfügung: Der kommunistische Endzeit-Regierungschef in Warschau, Mieczysław Rakowski, war 1976 jener Journalistenkollege gewesen, der im Rahmen der beiderseitigen Regierungsvereinbarung im Gegenzug zu mir zum Informationsbesuch in Österreich eingeladen war. Nach meiner Rückkehr erkundigte ich mich bei dessen Betreuer vom Bundespressedienst, welche Eindrücke Rakowski von Österreich gehabt habe. Nun, der spätere kommunistische Regierungschef bewunderte den hohen Standard des ländlichen Raums und der bäuerlichen Gesellschaft. Er meinte: „Wenn wir das nicht in 20 Jahren erreichen, sind wir weg vom Fenster.“)
Mit der ersten freien Wahl war der Damm gebrochen. In einer Kettenreaktion fielen noch im gleichen Jahr die KP-Regime im Osten.
In Polen wurde General Jaruzelski (und danach Wałęsa) vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt und der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki (Wałęsas Berater in Danzig) zum ersten nichtkommunistischen Regierungschef.
Der sowjetische Ostblock brach wie ein Kartenhaus zusammen. Polen hatte in alter revolutionärer Tradition die Regie geführt – und gleichzeitig Gorbatschow den Teppich unter den Füßen weggezogen. Die bis heute in Russland spürbaren Phantomschmerzen über den Verlust des osteuropäischen Vorfeldes waren mitentscheidend für den Sturz des Kreml-Reformers gewesen.
Stalin hatte den Satellitenring, einen „cordon sanitaire“geschaffen – in erster Linie aus strategischen und erst in zweiter Linie aus ideologischen Gründen. Dieser Entschluss war die Folge des Schocks durch den Überraschungsangriff NaziDeutschlands 1941 direkt über die deutsch-sowjetische Grenze. (Seit der Teilung Polens 1939 hatten die Sowjetunion und das Deutsche Reich eine gemeinsame Grenze).
Die Sicherheitsdoktrin Stalins sollte ein für alle Mal einen solchen Überfall aus
schließen. Daran kann man auch das Misstrauen Russlands gegen die NATO-Osterweiterung ermessen.
Jeder für sich war Zerstörer des Systems
Lech Wałęsa war kein Stratege. Er zerstörte das bestehende System „aus dem Bauch heraus“– ähnlich wie sein russischer Kollege Boris Jelzin. Beide waren keine Neugestalter und versagten schließlich jeweils als Staatschef ihres Landes.
Aber die Welt braucht beides: Zerstörer und Aufbauer.
Lech Wałęsa und Michail Gorbatschow – beide waren Zerstörer des Systems, jeder auf seine Art.