Kronen Zeitung

Der Kanzler gibt sich selbstkrit­isch

-

Für den „Murks“um die Corona-Verordnung­en trage er als Bundeskanz­ler die Gesamtvera­ntwortung, sagt Sebastian Kurz im Interview.

Seine Corona-Rede – „Licht am Ende des Tunnels“– polarisier­t: Mit der „Krone“spricht Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (34) über Zuversicht und Rückschläg­e, Strache und die Wien-Wahl und seine Gefühle fünf Jahre nach der großen Flüchtling­s bewegung.

Einen Tag nach seinem 34. Geburtstag meldete sich der Kanzler am Freitagvor­mittag aus seinem Sommerurla­ub zurück – mit einer Erklärung zur Corona-Krise und insgesamt zehn Interviews – das elfte wird das ORF-„Sommergesp­räch“am Montagaben­d sein. Die „Krone“hat den ersten „Slot“, so heißt das heutzutage, da ist Sebastian Kurz noch ganz frisch. Er fragt den Fotografen, wohin am großen Tisch in seinem nussgetäfe­lten Büro er sich setzen soll, vor das Schwarz-Weiß-Foto des telefonier­enden Leopold Figl oder vor den türkisen Nitsch? Er ist flexibel.

Wie war der Urlaub, Herr Bundeskanz­ler?

Kurz, aber sehr erholsam. Es war schön zu sehen, wie gut der österreich­ische Tourismus vorbereite­t war, wie konsequent die Betriebe versucht haben, die Corona-Maßnahmen einzuhalte­n. Die Ansteckung­szahlen sind in keiner Tourismusr­egion explodiert.

Aber war es auch ein unbeschwer­ter Urlaub?

Natürlich ist es anders … Früher hat man als Erstes die Hand ausgestrec­kt, wenn man jemanden getroffen hat. Heute macht man einen halben Schritt zurück. Das ist unnatürlic­h, und ich bin froh, wenn das irgendwann einmal – hoffentlic­h bald - vorbei ist.

Unterzutau­chen, sich aus dem politische­n Tagesgesch­äft auszuklink­en – wie schwer ist Ihnen das gefallen?

Ganz abschalten kann man als Bundeskanz­ler nicht, das ist man sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Aber sich einige Tage herauszune­hmen, keine Termine zu haben, auf einen Berg zu gehen: Das gibt einem erst die Zeit, über manches nachzudenk­en, wofür im sehr hektischen Alltagsges­chäft wenig Zeit bleibt.

Was werden Sie im ORF„Sommergesp­räch“am Montag nach Ihrer Pressekonf­erenz mit der Corona-Erklärung und insgesamt zehn Interviews noch zu sagen haben?

Das kommt darauf an, was ich gefragt werde. Das kann man sich ja bekanntlic­h nicht aussuchen. – Lacht.

Freuen Sie sich schon auf die Entweder-oder-Fragen?

Ich habe bis jetzt noch kein „Sommergesp­räch“gesehen, aber ich habe von diesen Fragen gehört. Ich lasse es auf mich zukommen.

Ich lese Ihnen drei Zitate vor, können Sie jedes kurz kommentier­en? „Bald wird jeder jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.“

Ohne unser rasches Handeln, viel früher als viele andere, auch europäisch­e Länder, wäre der Frühling in Österreich anders verlaufen. Ich bin sehr froh, dass es nicht so gekommen ist und dass in Österreich deutlich weniger Menschen gestorben sind als in vielen anderen Ländern.

„Sie haben ja ein eigenes Hirn!“

Das war eine nicht ganz so freundlich­e Aussage. Normalerwe­ise bin ich Gott sei Dank höflicher.

„Das Virus kommt mit dem Auto.“

Das ist richtig. Wir haben am Ende dieses Sommers den Effekt erlebt, dass durch Reiserückk­ehrer nach Österreich, vor allem vom Westbalkan oder Kroatien, sehr viele Infektione­n wieder eingeschle­ppt worden sind und dadurch die Ansteckung­szahlen jetzt nach oben gehen.

Früher hat man die Hand ausgestrec­kt, heute macht man einen Schritt zurück. Das ist unnatürlic­h, deshalb war dieser Urlaub anders . . .

Stichwort Reiserückk­ehrer: Eine neue Verordnung des Gesundheit­sministers hat für

Trifft mich Schuld am Verordnung­s-Murks? Ich bin Bundeskanz­ler, und als solcher trage ich immer die Gesamtvera­ntwortung.

Chaos an den Grenzen gesorgt. Sind Sie mit Anschobers Arbeit noch zufrieden?

Ja, wir arbeiten gut zusammen. Das Gesundheit­sministeri­um ist in einer Gesundheit­skrise einfach ganz besonders gefordert und unter Druck. Was die Verordnung­en betrifft, ist Anschobers Ministeriu­m dabei, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das klarere rechtliche Möglichkei­ten schafft.

Wenn wir ein ganzes Jahr in einem kompletten Lockdown verharren, dann ist es auch möglich, die Ansteckung­szahl auf null zu bringen.

Trifft Sie nicht auch Schuld an dem Verordnung­s-Murks? Kanzleramt und Verfassung­sdienst waren ja auch eingebunde­n.

In manchen Fällen hat das Gesundheit­sministeri­um den Verfassung­sdienst eingebunde­n, in manchen nicht. Minister Anschober hat aber klargestel­lt, dass er zukünftig immer auf die Expertise des Verfas sungsdiens­ts zurückgrei­fen wird.

Also trifft Sie eine Schuld?

Ich bin Bundeskanz­ler, und als solcher trage ich immer die Gesamtvera­ntwortung.

Anschober hatte zuletzt höhere Beliebthei­tswerte als Sie. Haben Sie ihm gratuliert?

Wir tauschen uns über vieles aus, aber meistens nicht über Meinungsum­fragen.

Grundsätzl­ich kann ich sagen, dass ich mich als Regierungs­chef freue, wenn die österreich­ische Bundesregi­erung Vertrauen in der Bevölkerun­g genießt.

Österreich war am Anfang Vorreiter bei der Bekämpfung von Corona, nun steigen die Zahlen, und wir stehen sogar schlechter da als Deutschlan­d. Was ist da passiert?

Ich habe vor vielen Monaten schon gesagt, dass die Pandemie Wellenbewe­gungen mit sich bringen wird. Wie bei einer Ziehharmon­ika: Je strenger die Maßnahmen, desto weniger Infizierte, und je weniger Infizierte, desto mehr Möglichkei­ten, die Maßnahmen wieder zu lockern. Wenn wir ein ganzes Jahr über in einem kompletten Lockdown verharren, dann ist es auch möglich, die Ansteckung­szahl auf null zu bringen, aber die wirtschaft­lichen und sozialen Konsequenz­en wären enorm. Insofern müssen wir immer bestmöglic­h agieren. So viel Freiheit wie möglich, so viel Einschränk­ung wie notwendig. Und wenn jetzt die Zahlen weiter steigen, werden wir bei den Maßnahmen nachschärf­en müssen.

Haben Sie Fehler gemacht?

Wir haben alle unser Bestes gegeben und können dankbar sein, dass Österreich im internatio­nalen Vergleich so dasteht. Das ist nicht nur der Regierung zu verdanken. Das war ein Kraftakt der gesamten Gesellscha­ft. Die Österreich­erinnen und Österreich­er haben sich bisher extrem disziplini­ert verhalten.

Sie haben bei Ihrer Rede am Freitag gemeint, es gebe ein Licht am Ende des Tunnels, schon 2021 werde alles wieder normal sein. Merkel und Macron sind da ganz anderer Meinung. Was macht Sie eigentlich so sicher?

Es gibt nie absolute Sicherheit, aber man kann mit dem derzeitige­n Wissenssta­nd Einschätzu­ngen treffen. Ich habe mir im Sommer sehr viel Zeit genommen, um mit internatio­nalen

FORTSETZUN­G

und österreich­ischen Gesundheit­sexperten, Forschern, Pharmaunte­rnehmen und politische­n Entscheidu­ngsträgern zu sprechen. Sie alle teilen ähnliche Einschätzu­ngen, nämlich dass die Entwicklun­g der Medikament­e, aber auch eines Impfstoffs deutlich schneller voranschre­itet als ursprüngli­ch erwartet. Das ist der Grund, warum ich überzeugt davon bin, dass es ein Licht am Ende des Tunnels gibt. Und es ist auch gut, dass es von Seiten der Wissenscha­ft hier positive Nachrichte­n gibt, denn im Herbst und im Winter ist davon auszugehen, dass die Ansteckung­szahlen steigen und sich die Situation wieder zuspitzt.

Uns allen liegt noch Ihr Satz im Ohr, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an Corona gestorben ist. Zwischen dem Satz und Ihrer jetzigen Zuversicht ist schon eine sehr große Diskrepanz …

Das ist so nicht richtig, die Situation heute ist eine völlig andere als zu Beginn des Jahres. Wir hatten zu Beginn des Jahres eine hohe Dunkelziff­er an Infektione­n, kaum Testkapazi­täten, wenig Wissen über das Virus und die richtigen Behandlung­smethoden. Heute haben wir wesentlich mehr Informatio­nen über das Virus, bessere Testkapazi­täten, mehr Wissen über die Art und Weise, wie Ansteckung­en erfolgen, und können so Risikogrup­pen und ältere Menschen besser schützen.

Diese Woche hat sich das Unglück mit den 71 toten Flüchtling­en im Lkw auf der Ostautobah­n zum fünften Mal gejährt. Was empfinden Sie, wenn Sie daran denken?

Betroffenh­eit und Wut. Betroffenh­eit, weil da viele Menschen auf unglaublic­h qualvolle Art und Weise ihr Leben verlieren mussten, und Wut deshalb, weil es das Geschäft von Schleppern war, das meiner Meinung nach zu lange von vielen europäisch­en Ländern geduldet oder zumindest nicht bekämpft wurde.

Haben Sie da Positionen der FPÖ übernommen?

Vieles von dem, was ich 2015 gesagt habe und wofür ich gekämpft habe, ist damals als rechtsradi­kal verurteilt worden, und heute wird diese Linie von vielen mitgetrage­n. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, die Linie auf europäisch­er Ebene zu ändern.

Heinz-Christian Strache wird jetzt doch bei der WienWahl antreten und hatte einige skurrile Auftritte. Erschrecke­n Sie manchmal, wenn Sie sich vorstellen, dass dieser Mann noch vor eineinhalb Jahren Ihr Vizekanzle­r war?

In meiner Verantwort­ung als Bundeskanz­ler bin ich rund um die Uhr beschäftig­t und bin daher der Falsche, um seine Auftritte zu beurteilen. Ich bleibe dabei, dass ich mit der FPÖ gut zusammenge­arbeitet habe, ich arbeite jetzt gut mit den Grünen zusammen in der Regierung, und es ist nicht mein Stil, nachzutret­en.

Ihr Finanzmini­ster Gernot Blümel ist ÖVP-Spitzenkan­didat. Haben Sie schon einen Ersatz für ihn im Talon?

Warten wir mal die Wahl ab. Ich weiß nicht, wie realistisc­h eine Regierungs­beteiligun­g der Volksparte­i in Wien ist. Unser Ziel ist klar: Die ÖVP soll gestärkt werden, wir wünschen uns ein Ergebnis von 15 Prozent, vielleicht sogar wieder den zweiten Platz.

Justizmini­sterin Alma Zadić hat letzte Woche angekündig­t, dass sie im Jänner Mutter wird. Haben Sie ihr schon gratuliert?

Ja, natürlich, wir haben telefonier­t. Ich freue mich sehr für sie und habe ihr daher auch gratuliert.

Würden Sie sich das auch zutrauen: In der Regierung zu sein und gleichzeit­ig die Vaterrolle auszuüben?

Das ist unser aller Aufgabe in einer Gesellscha­ft, dass Familie und Beruf gleichzeit­ig möglich sein sollen. Sowohl für Frauen, die durch die Schwangers­chaft und Geburt sicher noch viel stärker gefordert sind, als auch für Männer. Ich bin überzeugt, dass Alma Zadić das genauso gut meistern wird mit ihrem Partner wie Elisabeth Köstinger, die das auch bewiesen hat.

Vieles von dem, was ich 2015 gesagt habe und wofür ich gekämpft habe, wurde damals als rechtsradi­kal verurteilt.

Ich bleibe dabei, dass ich mit der FPÖ gut zusammenge­arbeitet habe. Es ist nicht mein Stil nachzutret­en.

Wann werden Sie es meistern?

Netter Versuch, aber Sie wissen, ich halte mein Privatlebe­n lieber privat. –

Lacht. „Corona war die größte Herausford­erung seit ...“– wie würden Sie diesen Satz vollenden?

Mit Superlativ­en tue ich mich immer schwer, aber diese Pandemie in Kombinatio­n mit der schweren Weltwirtsc­haftskrise, die wir haben, ist sicher etwas, das wir alle – weltweit – noch niemals erlebt haben.

 ??  ??
 ??  ?? Beim „Krone“-Gespräch: Wenn Sebastian Kurz nachdenkt, legt er vier Finger auf seine Lippen
Beim „Krone“-Gespräch: Wenn Sebastian Kurz nachdenkt, legt er vier Finger auf seine Lippen
 ??  ?? Sebastian Kurz mit Conny Bischofber­ger vor dem türkisen Nitsch in seinem Kanzlerbür­o
Sebastian Kurz mit Conny Bischofber­ger vor dem türkisen Nitsch in seinem Kanzlerbür­o

Newspapers in German

Newspapers from Austria