Kronen Zeitung

Volksnähe oder Arroganz der Macht?

Morgen in den Sommergesp­rächen im ORF ist Sebastian Kurz der fünfte und letzte Gast. Er beschließt den Reigen der Chefs aller Parlaments­parteien. Schauen wir uns in der „Krone“-Serie also die Situation der ÖVP an.

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Nein, wir sprechen (fast) nicht über die freitäglic­he Kanzlerred­e, die ein paar Tage vorher angekündig­t wurde und – geht es nach Sebastian Kurz – die Inhalte für seinen Auftritt im ORF vorgeben soll. Die Rede nochmals anzusprech­en, wäre ein Tappen in die Kommunikat­ionsfalle der ÖVP. Diese wirft in der Regierung immer geschickt Themenbäll­e mit Zukunftsve­rsprechen in die Luft, um den Ball in Wiederholu­ngen solcher Überschrif­ten ständig selbst aufzugreif­en.

Kritische Bilanzen in der Gegenwart und von früheren Kurzaussag­en des Typs „Jeder wird jemand kennen, der am Coronaviru­s verstorben ist!“mag man weniger. Doch in der Bevölkerun­g kommt die strategisc­he Kommunikat­ion gut an. Die ÖVP hat die vorjährige Wahl gewonnen und lag seitdem in Umfragen zwischenze­itlich sogar so gut wie in 50 Jahren nicht. Ist also alles Friede, Freude, Eierkuchen? Nein.

Alle Wahlerfolg­e von Sebastian Kurz beruhen darauf, dass ihm Hunderttau­sende Ex-Wähler der FPÖ in Scharen zugelaufen sind. Die muss er um jeden Preis halten. Dafür nimmt er in Kauf, dass ein Teil der bürgerlich-liberalen Österreich­er sich häufiger von der ÖVP abwendet und vermehrt – das beweisen Wählerstro­manalysen – zu den Neos oder Grünen geht.

Weil ehemalige Blauwähler in der Zuwanderun­g die Wurzel vielen Übels sehen, verknüpft die ÖVP raffiniert alles ein bisschen arg einseitig damit. Soeben etwa nach dem Anschlag auf die Grazer Synagoge beim islamische­n Antisemiti­smus.

Der ist wirklich ein großes Problem. Doch Studien, die genauso erschütter­nd hohe Zahlen antisemiti­scher Einstellun­gen von Nichtmosle­ms in Österreich belegen, lässt die ÖVP-Ministerin halt lieber weg.

Im Coronajahr kommt für die ÖVP das Virus aus dem Ausland, Vervielfac­hungen von Ischgl bis Sankt Wolfgang werden ungern angesproch­en. Dafür seien wir super durch die Krise gekommen. Na ja, alle Nachbarlän­der Österreich­s weisen momentan im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl geringere Infektions­zahlen auf als wir.

Anhänger der ÖVP meinten übrigens gemäß einer Studie der Universitä­t Wien zumindest im April – nach der ersten Coronawell­e – zu fast zwei Drittel, dass Opposition und Medien sich gefälligst mit kritischen Worten zurückhalt­en sollen. Vielleicht hat das in Verbindung mit den Wahlerfolg­en unter Regierungs­mitglieder­n und Funktionär­en der Partei zu einer gewissen Arroganz der Macht geführt. Was sich einerseits in der mangelnden Transparen­z für staatliche Auftragsve­rgaben und Postenbese­tzungen zeigt.

Anderersei­ts hat Angela Merkel um Kritik als Herzstück der Demokratie gebeten und sich für Fehler entschuldi­gt. Das ist Sebastian Kurz und türkisen Ministern fremd. Man gibt sich mehr als unfehlbare Heilsbring­er, Andersdenk­ende sind da Störenfrie­de. Erst seit das Verfassung­sgericht zentrale Coronarege­ln aufhob, kanzelt Kurz Kritiker nicht als „juristisch spitzfindi­g“ab. Nun will das Kanzleramt in einem „Philosophi­cum“politische Entwicklun­gen diskutiere­n. Nach konkreter Fehleranal­yse klingt das nicht.

Die Folge ist eine steigende ÖVP-Skepsis in Städten. Nur dort. Je mehr ländlicher Raum, desto mehr ÖVP. Würden nur Leute am Land wählen, wäre die Partei nahe der absoluten Mehrheit mit einer Alleinregi­erung ohne Koalitions­partner gewesen. Umgekehrt ist innerstädt­isch bloß ein Viertel der Österreich­er für die ÖVP. In bundesweit­en Wahlkämpfe­n ist das egal, weil sich die Rechnung unter dem Strich ausgeht. Gesellscha­ftlich ist so eine Polarisier­ung heikel.

Dumm gelaufen in diesem Zusammenha­ng für die ÖVP, dass die nächste Wahl am 11. Oktober in Wien stattfinde­t. Da ist man schwach. Bei der Nationalra­tswahl 2019 war die Bundeshaup­tstadt das schlechtes­te Bundesland. In Niederöste­rreich etwa gab es fast doppelt so viele Stimmen. Nur etwa jeder zehnte Wähler der ÖVP war aus Wien. Auch Sebastian Kurz – ein Meidlinger, der gerne als halber Waldviertl­er auftritt – ist hier weniger beliebt als anderswo.

Der Kurz’sche Stellvertr­eter als Wiener Spitzenkan­didat heißt Gernot Blümel und ist Finanzmini­ster. Als großartige­r Stimmenbri­nger gilt er nicht, doch hilft ihm die jämmerlich­e Ausgangsla­ge. Als 2015 letztmals der Landtag und Gemeindera­t in Wien gewählt wurden, verzeichne­te die ÖVP einen historisch­en Tiefstand. Also kann man nur deutlich zulegen.

Was auch für Sebastian Kurz wichtig ist: Seine parteiinte­rne Erzählung lautet: „Mit mir gewinnt ihr Wahlen, während wir vorher ständig verloren haben!“Da ist er zum Dauererfol­g verdammt, weil die ÖVP mit ihren Teilorgani­sationen selbst bei ihm sonst zu deren früheren Volkssport zurückkehr­en könnte: Den Bundespart­eichef entmachten und absägen.

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Bundeskanz­ler Sebastian Kurz ist der letzte Gast in den Sommergesp­rächen.

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