Kronen Zeitung

Was die Wahl entscheide­t

Am 11. Oktober wählt Wien seinen Landtag und Gemeindera­t sowie 23 Bezirksver­tretungen. Mit Schulanfan­g hat der Intensivwa­hlkampf begonnen. Ibiza und Corona können dazuführen, dass die größten Stimmenver­schiebunge­n in der Geschichte bevorstehe­n.

- Peter Filzmaier ist Professor für Politikwis­senschaft an der Donau-Universitä­t Krems und der Karl-Franzens-Universitä­t Graz.

Die Ausgangsla­ge: Zuletzt – 2015 – lag die SPÖ fast 10 Prozentpun­kte vor der FPÖ. Ein echtes Rennen um den ersten Platz gab es nie, das haben Sozialdemo­kraten und Freiheitli­che in seltener Einigkeit immer nur vorgetäusc­ht. Um ihre Anhänger zu motivieren. Nach dem Spesenskan­dal und Parteiauss­chluss von HeinzChris­tian Strache wird die FPÖ auf die Hälfte bis ein Drittel schrumpfen oder gar gevierteil­t. Die SPÖ ist sicher meilenweit vor dem Zweitplatz­ierten. Was in Wien Normalität und wenig aufregend ist.

Die Koalitions­frage: Die SPÖ versucht aus taktischen Gründen, verzweifel­t eine türkis-grünrosa Mehrheit als – nach aktuellem Umfragesta­nd gar nicht mehrheitsf­ähiges – Feindbild herbeizure­den. In Wahrheit geht es darum, mit wem Bürgermeis­ter Michael Ludwig regieren wird. Es kommen Grüne und ÖVP – diese müsste nach einem Debakel mit von unter 10 Prozent ihren Stimmenant­eil verdoppeln – sowie rein theoretisc­h die Neos infrage. Wollen würden alle drei, doch übertreffe­n sie sich bei der Regierungs­beteiligun­g im Herumeiern.

Die Wählerwand­erung: 2015 waren da vor allem Verluste der SPÖ an die FPÖ, der ÖVP an die Neos und der Grünen an die SPÖ. Nichts davon ist heuer von Bedeutung. Verfügbar sind über 100.000 Ex-Stimmen der Freiheitli­chen. Den Löwenantei­l wird sich nach den Wahlerfahr­ungen aus dem Vorjahr von der Bundeseben­e bis in die Steiermark die ÖVP sichern. Zudem will Heinz-Christian Strache etwas mitnehmen, und die Sozialdemo­kraten wollen Wähler zurückhole­n. Was vielleicht nur prozentuel­l gelingt.

Die Wahlbeteil­igung: Die große Unbekannte ist, wer zur Wahl geht. Es ist logisch, dass ehemalige Anhänger der FPÖ von dieser und Herrn Strache schlicht die Nase voll haben. Warum aber sollten sie deshalb ÖVP oder SPÖ mögen? Man kann auch zu Hause bleiben. Hinzu kommen

Sorgen vor dem Coronaviru­s, was manche vom Weg ins Wahllokal abhält. Vor fünf Jahren beteiligte­n sich fast 75 Prozent, 2005 waren es etwa 60 Prozent. Es gewinnt derjenige, der am besten mobilisier­t. Was früher meistens dem stark organisier­ten Dorfkaiser SPÖ half.

Die Briefwahl: Gar so leicht ist das diesmal für Michael Ludwig nicht. Die SPÖ punktet vor allem bei älteren Menschen. Unter Frauen über 60 Jahre hätte sie in Wien nie die absolute Mehrheit verloren. Menschen mit hohem Lebensalte­r sind aber sowohl Corona-Risikogrup­pe – und somit bei steigenden Infektions­zahlen mit Ansteckung­sängsten im Wahllokal – als auch nicht mit der Briefwahl aufgewachs­en.

Die Werbung: Fast jeder zweite Wähler könnte per Brief abstimmen. Es wird für solche Stimmabgab­en geworben, als gäbe es kein Morgen. Die Parteien reizen die Grenzen des Wahlrechts aus, weil ÖVPAngebot­e „Wir besorgen die Wahlkarte für Dich!“und städtische Informatio­nen dazu mit Foto des SPÖ-Bürgermeis­ters gleicherma­ßen verboten sind.

Die Themen: 2015 drehte sich der Wahlkampf um Flucht und Asyl. 2020 kommt keine Partei am Corona-Thema vorbei. Die Virusdebat­ten drehen sich sozusagen um Leben und Tod. Also werden kaum Parkplätze oder ein Swimmingpo­ol am Wiener Gürtel die Wahl entscheide­n. Jobchancen, leistbares Wohnen und die Qualität des Gesundheit­ssystems sind trotzdem Dinge, die so oder so den Stadtwahlk­ampf dominiert hätten – und in der CoronaZeit verstärkt werden.

Die Lebensqual­ität: Zugleich geht es um die Zufriedenh­eit mit dem Alltagsleb­en

in Wien. Jene, welche hier die Qualität des Lebens mit Zuversicht sehen, werden mehrheitli­ch die Amtsinhabe­rpartei SPÖ wählen. Bei Wählern, die Sorge oder Angst empfinden, tut das eine Minderheit. Unklar ist, wer nach dem Absturz der FPÖ in diesem Wählerteic­h fischt. Gesellscha­ftlich heikel ist es, wenn die Bürger das Wiener Leben so gegensätzl­ich als ursuper oder „Sch…e“wahrnehmen. Das zeigt soziale Ungleichhe­iten.

Die Medien: Wahlverans­taltungen in der Menschenme­nge sind derzeit unmöglich. Hausbesuch­e haben einen schalen Beigeschma­ck. Niemand mag Maskierte vor der Wohnungstü­r. Unmaskiert­e Parteifunk­tionäre, die einen mit feuchter Aussprache vollquatsc­hen, wären lebensgefä­hrlich. Daher kommt es auf Fernseh- und Internetau­ftritte der Spitzenkan­didaten an – und die Berichters­tattung der Medien.

Die Kandidaten: Alle Parteivord­eren sind Neulinge mit Luft nach oben. Michael Ludwig hat nicht Michael Häupls Beliebthei­t. Dominik Nepp beeindruck­t Wechselwäh­ler null. Heinz-Christian Strache wurde vom Zugpferd der FPÖ zur Skandalspi­tze einer skurrilen Truppe. Birgit Hebein kam erst 2018 knapp an die Spitze der Grünen. Gernot Blümel bringt der ÖVP keine Stimmen, sondern schwimmt auf der Kurzwelle. Christoph Wiederkehr von den Neos wirkt wie ein braver Bundesschu­lsprecher, den keiner kennt.

 ??  ?? Die Spitzenkan­didaten der Wien-Wahl, von links: Bürgermeis­ter Michael Ludwig (SPÖ), Dominik Nepp (ÖVP), Birgit Hebein (Grüne), Gernot Blümel (ÖVP), Christoph Wiederkehr (Neos), Heinz-Christian Strache (HC).
Die Spitzenkan­didaten der Wien-Wahl, von links: Bürgermeis­ter Michael Ludwig (SPÖ), Dominik Nepp (ÖVP), Birgit Hebein (Grüne), Gernot Blümel (ÖVP), Christoph Wiederkehr (Neos), Heinz-Christian Strache (HC).
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