Kronen Zeitung

In 15 Minuten steckt ein ganzes Leben

409.356 Menschen sind in Österreich aktuell arbeitslos. Im Winter wird die Zahl traditione­ll steigen. Ein Besuch in einer AMS-Stelle in Wien, wo in 15 Minuten ganze Leben stecken.

- Anna Haselwante­r

Eisig schlagen einem der Wind und der Montagmorg­en ins Gesicht. Das Grau der Betonfassa­de der AMS-Stelle in der Johnstraße geht nahtlos in jenes des Himmels über – es ist Oktober in Wien. Gut ein halbes Jahr nachdem ein Virus den Arbeitsmar­kt geschluckt und wieder ausgespuck­t hat – und Wochen vor dem Winter, der demselben ohnehin nie guttut.

Menschenan­sammlungen trifft man vor dem AMS dennoch nicht an, die zahlreiche­n Anfragen, Meldungen, Nachfragen werden großteils elektronis­ch abgewickel­t, oder über die Servicehot­line, die „natürlich dauerhaft überlastet ist“, wie eine Mitarbeite­rin sagt.

Mehr Kunden und viel mehr „schwierige Fälle“

Jene Betroffene, die sich physisch in die Geschäftss­telle verirren, seien die „schwierige­n Fälle“, sagt Friederike Weissenböc­k, seit 35 Jahren Mitarbeite­rin des AMS. Ihre Augen schauen freundlich durch die Brille, immer wieder zupft sie sich die Maske im Gesicht zurecht. „Das Problem ist“, sagt Weissenböc­k, die in der Infostelle arbeitet, „dass wir nicht nur mehr Kunden haben, sondern auch mehr schwere Fälle.“Es sei die Existenzan­gst, die mit vielen Kunden durch die Tür tritt. „Hier im 15. Bezirk sind ohnehin nicht unbedingt Höchstverd­iener“, sagt die Beraterin – und Corona verschärfe die Lage massiv.

Statt 350 nun 600 Kunden pro Berater

Denn während im April noch viele relativ hoffnungsv­oll gewesen seien, stelle sich nun das Gefühl ein, dass die Krise länger dauern wird – „und niemand weiß, wie lange“, sagt Weissenböc­k. Miete, Strom, Nahrung, Leben – all das will aber bezahlt, die Sorgen darüber erzählt werden. 15 Minuten gibt es pro Kunde.

„In der Zeit muss über Kurse, Vermittlun­g und Finanzen gesprochen und alles dokumentie­rt werden“, erklärt Beraterin Claudia Patuzzi. Auf jeden Berater kommen 600 Kunden, 350 waren es vor der Krise. 8064 arbeitslos­e Menschen betreuen die 65 Beschäftig­ten in der Johnstraße zurzeit. Wie geht sich das aus? „Na ja, manchmal“, sagt Patuzzi, „fällt ein Anruf aus oder jemand hat eine Stelle gefunden.“Dann habe man etwas Puffer. Ansonsten helfe ihre Gabe, schnell zu sprechen, schmunzelt sie. „Natürlich haben viele ein großes Mitteilung­sbedürfnis“, sagt auch Weissenböc­k. Sie versuche den Menschen das Gefühl zu geben, aufgehoben zu sein. „Niemand ist gerne arbeitslos“, betont Patuzzi. Bürokratis­ches, Emotionale­s – 15 Minuten Rahmen: Einfach habe man es zurzeit

Die Personalre­ssourcen sind knapp, und wir gehen von einer Winterspit­ze aus – aber wir versuchen natürlich, alles zu schaffen.

Alexander Gayer, Leiter AMS Johnstraße

nicht, weder auf der einen, noch der anderen Seite des Schreibtis­ches. Hinzu komme, dass bei der telefonisc­hen Beratung die Mimik fehle, das erschwere die Beratungen massiv.

Es ist kurz vor Mittag, der

Warteraum füllt sich etwas. Eine Frau kommt aus Weissenböc­ks Büro, sie weint. Menschen, denen es schlecht ging, gehe es jetzt noch schlechter. „Ich verweise sie auf Psychosozi­ale Dienste“, sagt Weissenböc­k.

Der nächste Kunde tritt in ihr Büro, in der Hand hält er ein Plastiksac­kerl, in der sich Briefe stapeln. Vieles von dem Inhalt des Sackerls ist für den Mann schwer verständli­ch, Weissenböc­k streicht ihm Stellen mit dem Textmarker an, erklärt, beruhigt, versucht dem Menschen zwischen den Nummern Raum zu geben. Der Herr bekommt Geld nachbezahl­t, erleichter­t verlässt er die Räumlichke­iten.

Die Devise: Zeit nützen, aus- und weiterbild­en

Draußen sitzt die nächste Kundin, eine junge Mutter. Sie hat durch die Krise ihren Job in der Gastro verloren, ihr Mann ist auch arbeitslos. Er macht einen Deutschkur­s zur Überbrücku­ng. Der Großteil der Kunden in der Johnstraße hat Migrations­hintergrun­d. Viele nur einen Pflichtsch­ulabschlus­s, Deutschken­ntnisse sind oft schlecht. Man versuche die Zeit nun zu nützen, um Sprachkenn­tnisse zu verbessern, Lehrabschl­üsse nachzuhole­n, erklären die AMS-Mitarbeite­r – um die Verbindung zwischen Mensch und Arbeit herzustell­en.

Auch wenn das Pensum zu Beginn der Krise eine Katastroph­e war, noch immer „Wahnsinn ist“, sei ihr Job einer der sinnvollst­en der Welt, sagt Patuzzi und widmet sich den nächsten 15 Minuten Leben.

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Die AMS-Stelle in der Johnstraße ist eine von 15 in Wien
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ŷ Friederike Weissenböc­k erklärt einem Kunden seine Bescheide und versucht, ihm seine Sorgen zu nehmen.
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Der Warteraum ist dünn besetzt, der Großteil erfolgt online

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