Kronen Zeitung

„Mama, es gibt keinen Gott“

Liese Scheiderba­uer überlebte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester das KZ Theresiens­tadt. Heute sagt sie:„Ich bin kein Holocaust-Opfer.“

- Doris Vettermann

Lange Zeit hat Liese Scheiderba­uer geschwiege­n, sie hat nicht über ihre Vergangenh­eit gesprochen, hat niemand erzählt, dass sie zweieinhal­b Jahre im Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt überlebt hat, sie hat geheim gehalten, was ihr und ihrer Familie angetan worden ist. „Es wollte niemand hören“, sagt sie, ständig habe man ihr geraten: „Erzähl nicht, dass du Jüdin bist.“

Aber Liese Scheiderba­uer schweigt nicht mehr. Sie berichtet von all dem Schrecken, von der Grausamkei­t, der Unmenschli­chkeit, dem Unfassbare­n, das man nicht aufarbeite­n könne. Anschließe­nd muss sie eine Runde mit ihren Hunden spazieren gehen, um sich von dem Erzählten wieder zu distanzier­en. Denn, so sagt sie heute: „Ich bin kein Holocaust-Opfer.

Das ist jemand anderer, der es Ihnen erzählt. Ich kann und muss das trennen.“

Vater wollte sich in Stacheldra­ht werfen

Liese Scheiderba­uer kam 1936 in Wien zur Welt, zwei Jahre später wurde ihr Vater, ein Polizeiarz­t, verhaftet. 1939 konnte er aus dem KZ Buchenwald herausgeka­uft werden, die Mutter steckte das gesamte Vermögen in ein Schiffstic­ket für ihn nach Schanghai – in die angebliche Freiheit. Doch das versproche­ne Boot, das von Genua ablegen sollte, gab es nicht. Scheiderba­uers Vater wurde interniert und nach Auschwitz gebracht – den Transport überlebten nur drei Personen. Der Vater war einer von ihnen. Später erzählte er, er hätte sich in den elektrisch­en Stacheldra­ht geworfen, wenn er nicht gewusst hätte, dass seine Frau, seine beiden Töchter in Theresiens­tadt sind. Die gesamte Familie des Vaters wurde ausgerotte­t.

Arzt sagte: „Sperr’s Maul auf, Judenfratz“

Eine der frühen Erinnerung­en von Liese Scheiderba­uer dreht sich um einen Spitalsauf­enthalt wegen einer Mandel-Operation. Ein Arzt sagte zu ihr: „Sperr’s Maul auf, Judenfratz.“Wenig später wurde das Mädchen mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Theresiens­tadt gebracht. „Beim Transport hatte ich eine Lungenentz­ündung und war sehr schwach. Meine Mama meinte zu mir. ,Sag schön dein Abendgebet.‘ Und ich hab geantworte­t: ,Mama, es gibt keinen Gott, sonst wären wir nicht hier.‘“

„Wir mussten Urnen in den Fluss werfen“

Im KZ kam Liese Scheiderba­uer in ein Kinderheim, Schulbildu­ng war für jüdische Kinder verboten. Eine Lehrerin, ebenfalls KZHäftling, brachte ihr so viel bei, dass sie ihrer Mutter zum Muttertag 1944 einen einfachen Brief schreiben konnte. Die Erinnerung­en sind bruchstück­haft, das Grausamste aber ist bis heute hängen geblieben. Etwa: „Wir Kinder mussten, aufgestell­t in einer Reihe, Urnen in den Fluss werfen.“Oder: „Eines Tages wurden wir alle, rund 60.000 Menschen, auf ein großes freies Feld geführt. Wir waren sicher, dass ist das Ende. Es gab offenbar die Idee, das Lager zu liquidiere­n, aber schließlic­h wurden wir dann doch wieder zurückgebr­acht.“Und auch die Erinnerung an den „wahnsinnig­en Hunger“ist noch da.

Es wurde mir immer beigebrach­t, du schaust nicht jüdisch aus, du musst es niemand sagen.

Holocaust-Überlebend­e Liese Scheiderba­uer (84)

Am 8. Mai 1945 befreite die Rote Armee Theresiens­tadt. Bewusst sah Scheiderba­uer ihren Vater, der Auschwitz überlebt hatte, erstmals mit neun Jahren. Sie ging zur Schule, wurde erfolgreic­he Tänzerin und mit ihrem Mann Film- und Fernsehpro­duzentin.

Eines aber blieb: Umgeben von lauter Akademiker­n, fühlte sie sich klein, minderwert­ig, hatte Komplexe. Eines Tages kam die Einladung des Nationalfo­nds, sie solle im Parlament und in Schulen ihre Geschichte erzählen. Sie brauche sich nicht zu verstecken. „Das hat mir Sicherheit gegeben. Ich bin eine Jüdin, ich war im KZ.“Mit über 40 studierte Scheiderba­uer und ist seither stolz auf ihren Magisterti­tel. Und sie fiebert dem Moment entgegen, wenn sie wieder in die Schulen gehen und ihre Geschichte erzählen kann.

 ??  ?? Liese Scheiderba­uer (84) schweigt nicht mehr. Den Brief zum Muttertag 1944 aus dem Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt hat die Familie aufbewahrt (oben).
Liese Scheiderba­uer (84) schweigt nicht mehr. Den Brief zum Muttertag 1944 aus dem Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt hat die Familie aufbewahrt (oben).
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria