Kronen Zeitung

Von Leserr fur Leser

Der Schneemann, der nicht schmelzen wollte

- von Sandra Klammer

Es stürmte und schneite wie häufig in den letzten Tagen. Es war eben ein bitterkalt­er Dezember dieses Jahr. Mit jedem Tag, mit jeder neuen Schneefloc­ke wuchs der Schneemann und wurde dicker. Der eisige Wind pfiff um seine lange Karottenna­se und riss ihm fast die Haube vom Kopf. Die dünnen Äste, die ihm die Kinder als Arme in die Seiten gesteckt hatten, knarzten, wenn der Sturm an ihnen rüttelte. Die Kinder tobten um ihn herum, bewarfen sich mit Schneebäll­en, und dekorierte­n fröhlich seinen weißen Körper mit Kohlestück­en. Dem Schneemann gefiel sein Schneemann-Leben. Doch er wusste, dass es damit vorbei sein würde, sobald es wärmer wurde. Dann würde er schmelzen.

„Warum beschenkst du nur Menschen?“, fragte der Schneemann das Christkind unglücklic­h, als es am Heiligen Abend an ihm vorbeiflog. „Das Christkind starrte den Schneemann eine Weile nachdenkli­ch an. Schließlic­h sagte es: „Gut, ich erfülle dir drei Wünsche. Die ersten beiden sofort, den dritten später.“Der Schneemann verzog seinen Mund aus Kohlestück­chen zu einem breiten Grinsen und bedankte sich. Dann nannte er seinen ersten Wunsch: „Ich hätte gerne einen Schal, der zu meiner Haube passt.“Kaum hatte er die Worte ausgesproc­hen, da schmiegte sich ein weicher, kuschelige­r Schal um seinen Hals. Und ich wünsche mir, niemals zu schmelzen“, fügte er hinzu. Das Christkind nickte. „Dieser Wunsch wird dir erfüllt. Nächstes Jahr zu Weihnachte­n besuche ich dich wieder. Einen dritten Wunsch hast du ja noch frei.“

Im neuen Jahr gewann die Sonne von Tag zu Tag an

Kraft. Der Frühling setzte ein und der Schnee auf den Dächern, den Bäumen und Straßen schmolz. Alle Schneemänn­er verschwand­en, doch er – der Schneemann, der nicht schmelzen wollte – blieb unveränder­t. Am Anfang waren die Kinder begeistert. Der Schneemann, der immer noch auf der grünen Wiese stand, war eine Sensation! Doch je heißer es wurde, desto mehr ließ das Interesse der Kinder nach. Sie gingen lieber schwimmen, als sich um ihn zu kümmern. Der Schneemann schwitzte unter seiner warmen Haube und dem dicken Schal.

Der Herbst zog ins Land, dennoch ließen sich die Kinder nur selten blicken. Auch als es Winter wurde, bauten sie lieber neue Schneemänn­er, als sich mit dem alten zu beschäftig­en. Einsam und traurig fühlte sich der Schneemann deshalb.

Am Heiligen Abend tauchte wie versproche­n das Christkind auf. „Nun, Schneemann, wie ist es dir in diesem Jahr ergangen?“„Nicht sehr gut“, murmelte dieser unzufriede­n. „Vielleicht kann ich dir helfen. Einen Wunsch hast du ja noch frei. Wie lautet er?“Der Schneemann wusste ganz genau, was er sich wünschte. Lange hatte er darüber nachgedach­t. „Bitte, liebes Christkind, lass mich schmelzen.“

„So soll es sein“, sagte es, und augenblick­lich zerfloss der Schneemann zu einer Pfütze. Das Letzte, was man von ihm hörte, war ein glückliche­s Seufzen. Schicken Sie Ihre Geschichte­n und Gedichte an: advent@kronenzeit­ung.at

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria