Kronen Zeitung

Woher kommt das Böse?

Von Kardinal Christoph Schönborn

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Was hat einen 21-Jährigen bewogen, am Abend des 2. November blindlings auf friedliche Menschen zu schießen? Vier Tote, viele zum Teil schwer Verletzte! Was muss in einem jungen Menschen vorgehen, eine solche sinnlos-grauenvoll­e Tat zu begehen? Er dürfte überzeugt gewesen sein, hier etwas Gutes zu tun, genauer: um eines guten Zieles willen zu morden. Er tat es nicht, um eine Bank zu überfallen und viel Geld zu erbeuten. Es war auch nicht ein Akt der Rache gegen bestimmte Personen, die ihm ein Leid zugefügt hätten. Er schien davon zu träumen, einem großen Ziel zu dienen: In dieser verderbten Welt einen Gottesstaa­t zu errichten, in dem alles ganz nach Gottes heiligem Gesetz gehen würde.

Was hat dieser schrecklic­he Terrorakt mit dem heutigen Fest zu tun? Maria ist doch das totale Gegenteil einer solchen kranken Geisteshal­tung. Heute wird ihrer Empfängnis gedacht, neun Monate vor ihrer Geburt am 8. September. Sie wird als die „ohne Erbsünde Empfangene“bezeichnet. Sie sei, so lehrt die Kirche, „ohne den Makel der Erbsünde“von ihren Eltern Joachim und Anna empfangen worden.

Erbsünde: Das ist das eine Thema des heutigen Festes. Das andere ist Maria, die Frau ohne Erbsünde, vom Anfang ihres Lebens an. Für mich ist die Erbsünden-Lehre der Kirche ein Schlüssel für vieles, was in der Welt passiert und was ich auch in mir selber feststelle. Sie sagt ganz einfach Folgendes: Alle Menschen sind gut geschaffen, tragen aber wie ein Erbe eine Art seelischen genetische­n Defekt in sich, eine Neigung nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen. Ein Leben lang haben wir alle mit beiden Neigungen zu kämpfen: die gute zu stärken und die böse zu bekämpfen.

Im biblischen Bericht vom Sündenfall verführt die Schlange Adam und Eva mit einem einfachen Trick: Sie spiegelt ihnen das Verbotene als etwas Verlockend­es, Wünschensw­ertes und Gutes vor. Wir werden immer zum Bösen dadurch verlockt, dass es uns als etwas Gutes vorgegauke­lt wird. Das kann der Alkohol sein, der Seitenspru­ng, das schnelle Geld oder das Morden, um etwas angeblich Gutes zu erwirken. Zahllose Menschen wurden so durch die Ideologie des Nationalso­zialismus dazu verführt, Judenmorde für gut, ja sogar für notwendig zu halten, damit das erträumte tausendjäh­rige rein deutsche Reich entstehen kann. Der Wahn ist in Bomben, Blut und Tränen untergegan­gen.

Wie viele solche Ideologien hat es schon gegeben, die stets das Böse gerechtfer­tigt haben, um etwas angeblich Gutes zu erreichen! Von einer solchen hat sich der junge Terrorist infizieren lassen. Seine Tat hat mit echter Religion nichts zu tun.

Und Maria? Sie ist das genaue Gegenbild zu diesen tragischen Irrwegen. In ihr hatte der Zwiespalt, der in allen Menschenhe­rzen da ist, keinen Platz. Sie schwankte nicht zwischen Gut und Böse. Ihr Ja zu Gott machte sie offen für Ihn und damit für alle Menschen. Der Engel begrüßte sie: „Du bist voll der Gnade.“Deshalb ist sie voll unvergleic­hlicher Güte. Nur so kann ich mir erklären, warum überall auf Erden Menschen bei ihr Schutz und Geborgenhe­it suchen und finden.

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Adam und Eva ließen sich von der Schlange verführen. Lucas Cranach, der Ältere, um 1515.
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