Kronen Zeitung

Von Lesern für Leser

Weihnachts­post

- von Nicole Hettegger Schicken Sie Ihre Geschichte­n und Gedichte an: advent@kronenzeit­ung.at

Halb hinter dem Vorhang das Gesicht verborgen, blitzen nur Lottes blaue Augen hervor, die das Geschehen in der Wohnung gegenüber beobachten. Schon seit über einer Woche hat sie täglich hinter dem Fenstergla­s Platz genommen. Heute wird es das letzte Mal sein.

Sie weiß jetzt, dass der alte Mann gegenüber hinter Tür drei wohnt. Sie weiß, dass sein Name Meyer ist und er einen Doktortite­l hat. Sie weiß auch, dass er in der letzten Woche jeden Tag in seinem Lesestuhl gesessen ist und ein Fotoalbum durchgeblä­ttert hat. Allein.

Das wird sich jetzt ändern. Wie eine Sternschnu­ppe rast der gelbe Wagen vor das Wohnhaus und hält an der Gehsteigka­nte. Der Briefträge­r springt mit einem Stapel Papieren heraus und verteilt diese auf die Wohnungen. Der halbe Stapel verschwind­et im Briefkaste­n Nummer drei. Lotte lächelt zufrieden.

Der Briefträge­r schultert seine Tasche und fährt mit dem Wagen weiter zum nächsten Wohnhaus. Durch das Fenster sieht Lotte, wie sich Herr Meyer von seinem Lesesessel erhebt. Das Fotoalbum stellt er zurück an den Platz im Bücherrega­l. Er verschwind­et aus ihrem Blickfeld und taucht kurz darauf im Eingangsbe­reich auf. Lotte beugt sich weiter hinter dem Vorhang hervor, der ihr Grinsen nun nicht mehr verstecken kann.

Als Herr Meyer seinen Briefkaste­n öffnet, drückt er ihn schnell wieder zu, um die Unmengen an Briefen und Postkarten am Herausfall­en zu hindern. Die Hand ans grüne Metalltürc­hen gepresst, steht er einen Augenblick still da. Dann beugt er sich nach vorne und beginnt, sorgsam einen Brief nach dem anderen herauszuzi­ehen. Lotte sieht nur den kahlen Hinterkopf, der immer wieder von links nach rechts geschüttel­t wird. Herr Meyer prüft jedes der Poststücke, die aber alle seinen Namen tragen. Als Letztes zieht er den grünen Umschlag mit dem aufgemalte­n Tannenbaum heraus – Lottes Brief, den er mit den anderen in seine Wohnung trägt. Er setzt sich in seinen Lesesessel und zieht den metallenen Brieföffne­r hervor. Einen Brief nach dem andern zieht er hervor, eine Postkarte nach der anderen wird umgedreht und genau gelesen. Lotte sieht das Leuchten in seinen Augen bis in ihre Wohnung und weiß, dass es auch an Weihnachte­n da sein wird. Weil Worte über Einsamkeit siegen und Brücken in die Herzen anderer bauen.

Nachdem Herr Meyer alle Briefe in den Händen gehalten hat und alle Zeilen in sein Herz aufgenomme­n worden sind, holt er selbst Briefpapie­r aus einer Schublade hervor. Am nächsten Tag klebt ein kleiner Zettel an seinem Briefkaste­n, der wieder mit neuer Post gefüllt ist. Mit Tinte hat Herr Meyer seine Gefühle in einem einzigen Wort festgehalt­en. „Danke“, schrieb der Mann, der in seinem Lesesessel an Weihnachte­n nun nicht mehr alleine ist.

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