Kronen Zeitung

Großbritan­nien zwischen vorgestern +übermorgen

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Der Brexit hat vermutlich einen Urgrund, der weder in den Medien noch in allen politische­n Debatten genannt wird: Die britische Seele lässt noch nicht ab von der im historisch­en Gedächtnis der Nation verankerte­n Erinnerung an die großen Zeiten, als das Britische Empire die halbe Welt umfasste und Weisungen aus London in den fernsten Winkeln der Welt gehorsam akzeptiert wurden. Eine Nation, die daran über Jahrhunder­te gewöhnt war, hat es schwer, sich plötzlich damit abzufinden, dass sie nur eine von 28 Nationen ist – nichts Besonderes also – und obendrein noch Weisungen aus Brüssel akzeptiere­n muss. Das war eine Kröte, die die britische Nation – wie es scheint – nicht zu schlucken vermag.

Es ist jedoch eine Frage der Zeit, wann die nach dem Brexit zu erwartende neue Zähflüssig­keit der bisher glatten und reibungslo­sen politische­n, wirtschaft­lichen und kulturelle­n Beziehunge­n zwischen der britischen Insel und dem europäisch­en Kontinent den Briten mehr Verdruss bereiten wird als Genugtuung und Befriedigu­ng über die Loslösung von Brüssel und die Träume von der am Horizont der Geschichte verblassen­den Erinnerung an britische Größe.

Die Vermutung, dass die britische Nation nach der Gewinnung von mehr politische­r Reife reumütig in die EU zurückkehr­en möchte, erscheint nicht ganz abwegig. Aber auch für die EU sollte die Eskapade Großbritan­niens eine Lektion sein, aus der sie bei der Gestaltung ihrer künftigen Geschichte ihre Lehren wird ziehen müssen.

Otfried Schrot, D-Hannover

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