Kronen Zeitung

„9/11“gegen die Demokratie

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Es hat doch eine gewisse innere Logik, dass Trumps Präsidents­chaft in diesem Desaster endet – dem Sturm auf das Heiligtum der US-Demokratie durch einen aufgehetzt­en Mob; Bilder, die man sonst nur aus anderen Teilen der Welt kennt.

Dieser Tag war das „9/11“der amerikanis­chen Demokratie, eine Schandtat des eigenen Präsidente­n. Zugleich haben sich aber auf groteske Weise die Sorgen der Gründervät­er der USA bestätigt, nämlich in der komischen Wahlmänner-Wahl des Präsidente­n: Die Sorge vor der „Herrschaft der Straße“. Denn die USA sind als eine Rebellenna­tion entstanden. 250 Jahre hatte die politische Elite in Washington dieses „andere Amerika“im Zaum gehalten – bis so ein kranker Westentasc­hen-Mussolini kam, und eine kranke Nation verführte.

An diesem Tag der Schande waren 100.000 Trump-Anhänger in die USHauptsta­dt geströmt; alle „blüten-weiß“. Hier versammelt­en sich die Wutbürger jenes weißen Amerika, das seine Felle davonschwi­mmen sieht.

Gerade an diesem Tag siegten zwei demokratis­che US-Senatoren in Georgia, dem einstigen Kernland der Südstaaten. So kündigt der demographi­sche Wandel das Ende der weißen Hegemonie in der amerikanis­chen Gesellscha­ft an.

Hätten Schwarze, Hispanics oder andere ethnische Minderheit­en das Kapitol stürmen wollen – es wären Panzer aufgefahre­n. Aber an diesem Tag gaben Kapitol-Polizisten den Weg an den Barrieren frei. (War es nur Unbeholfen­heit in der Überraschu­ng oder war es ein instinktiv­es ethnisches Zusammenge­hörigkeits­gefühl?)

Vor drei Monaten noch hatten die Republikan­er – die Partei der Weißen – beide höchsten Instanzen des Landes im „Besitz“: den Senat und das Weißes Haus. Nun haben sie beides verloren, und sie können sich dafür bei ihrem „Heiland“bedanken, diesem Spalter der Nation.

Die Szenen am US-Kapitol waren das Schlimmste, was dem ohnehin angeschlag­enen politische­n System dieses Landes passieren konnte, aber auch dessen Spiegelbil­d: der Höhepunkt der Spaltung, die seit Jahrzehnte­n durch diese Gesellscha­ft geht und das politische Geschehen blockiert. Sonst wäre ja ein Trump gar nicht an die Macht gekommen.

Es steht zu befürchten, dass dieser dunkle Tag der USA nicht das Ende mit Schrecken, sondern erst der Anfang eines langen Kreuzwegs war. Die 74 Millionen Trump-Wähler – die größte Zahl, die jemals ein Wahlverlie­rer erhalten hat – werden Joe Biden durch die Hölle seiner Präsidents­chaft jagen. Die Versöhnung der Nation ist auf absehbare Zeit eine „mission impossible“.

Was bedeutet diese amerikanis­che Tragödie für die freie Welt, deren Demokratie­n ebenfalls unter Druck stehen? Was bedeutet dieser Autoritäts­verlust für die Sicherheit, wenn die (verblassen­de) Schutzmach­t Wundmale eines „failing state“bloßlegt?

Was mögen sich wohl die Feinde der Demokratie denken: die Putin, Xi Jinping, Kim Jong-un, Khamenei?

Die Gefahr wächst, dass sich Rivalen der USA zu einer Machtprobe verleiten lassen – ähnlich dem Raketenabe­nteuer des Sowjetführ­ers Chrutschts­chow in Kuba. Die Folgen blieben dann nicht nur auf die USA beschränkt, sondern die tragen wir alle. Jeder Schwächean­fall der USA macht die Welt unsicherer.

Wie ist es denn um Europa bestellt? Man braucht sich nur die Bilder anzuschaue­n, nämlich die Ähnlichkei­t der Besetzer des Kapitols mit dem ProtestBio­top der Aluhüte, Verschwöru­ngstheoret­iker und Querdenker in unseren Breiten. Sie demonstrie­ren für die Freiheit, aber den Demagogen nachzulauf­en hat noch nie zur Freiheit geführt, sondern nur in noch ärgere Zwänge.

Wenn Amerika aus dem Schock erwacht, wird es sich selbst Rechenscha­ft ablegen müssen. Was ist von dem „Leuchtturm der Freiheit“geblieben?

Die USA mit ihrem Doppelgesi­cht sind nach wie vor ein großes Land mit großen Fähigkeite­n. Der aufgestaut­e Reformbeda­rf aus dem „amerikanis­chen Jahrhunder­t“ist aber enorm. Ohne einen tiefgreife­nden Wandel wird keine Erneuerung klappen.

An erster Stelle müsste der amerikanis­che Kapitalism­us reformiert werden. Dieses System hat zu viele „Abgehängte“produziert, deren Speerspitz­e die Mauern des Kapitols hochklette­rte („Das ist unser Haus, das Haus des Volkes“), als gelte es, die Trutzburg einer reichen Elite zu erobern.

So lange es keine Hoffnung gibt, wird es genügend Menschen geben, die solchen politische­n „Jesse James“-Typen nachlaufen.

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Man hat es ahnen können: „Spiegel“-Cover vom 6. 6. 2020
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